0389 - Der Ghoul und seine Geishas
normal bewegen.
Für sie kein Grund zum Jubeln, denn sie dachte wieder an den Leichengeruch, der ihr entgegengeweht war. In der Dunkelheit empfand sie ihn als besonders intensiv und mußte schlucken, als sie auf beiden Beinen stand und auch merkte, daß auf ihrem Körper ein Schauder lag.
Es war die zweite Haut der Angst. Sie schüttelte sich leicht, strich mit einer fahrigen Bewegung das Haar aus der schweißverklebten Stirn und schlich auf Zehenspitzen weiter.
Der Boden unter ihr bestand aus einem festen Material. Stein, nahm Shao an, sehen konnte sie ihn nicht. Er war glatt, hin und wieder nur rutschte sie über eine Fuge.
Der Gestank blieb.
Ein Pesthauch aus der Hölle. Widerlich und atemraubend. Trotzdem mußte Shao Luft holen, sie tat es durch die Nase, denn sie wollte auf keinen Fall irgend etwas schmecken.
Was lauerte da?
Niemand sagte es ihr, keiner lockte sie auch, freiwillig ging sie in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernommen hatte.
Jeder Schritt bedeutete für sie Qual und Herausforderung zur gleichen Zeit. Um etwas in Bewegung zu setzen, mußte sie sich auf das Unbekannte zubewegen, auch wenn es ihr noch so schwerfiel.
Shao kam genau zwei Schritte weit, als sie die Musik vernahm.
Die Chinesin konzentrierte sich auf die neuen Klänge, die ihr so fremd und gleichzeitig doch bekannt vorkamen.
Es waren Melodien aus anderen Sphären, schwermütig, weit entfernt und dennoch nahe.
Unbekannt und bekannt zugleich.
Shao blieb einfach stehen, weil die Klänge sie so antörnten, daß sie nicht in der Lage war, auch nur einen Schritt nach vorn zu gehen.
Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, dachte nach, konzentrierte sich auf die Melodien und überlegte, wo sie diese Klänge schon einmal vernommen hatte. Auf eine Lösung kam sie nicht.
Aus welchem Grunde waren ihr diese unbekannten Melodien so bekannt? Wo befand sich denn die Erinnerung, wo gab es eine Lücke, die ausgefüllt werden mußte?
Den Leichengeruch hatte sie vergessen. Er wehte ihr zwar nach wie vor entgegen, aber die Melodie war wichtiger.
Shao überlegte so intensiv, daß sie Kopfschmerzen bekam. Manchmal waren die Töne lockend, sie schienen magnetisch zu sein, sich dadurch zu nähern. Dann wieder erklangen sie leise, beinahe schluchzend und voller Sehnsucht und Verlangen, geboren in einer Welt, die lange zurücklag, schon vergessen, aber nicht verloren, denn sie drängte durch diese Melodien aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, wo sich diese Welt in Erinnerung bringen wollte.
Für Shao, die sich nicht rührte, war es ein Konglomerat aus Träumen, Sehnsüchten, längst Vergessenem, das wieder hochgespült wurde und sie umfing.
Es begann sie zu quälen, bohrte zunächst nur ihr Erinnerungsvermögen an, drang tief hinein und zapfte quasi ihre Psyche an, um sie zu locken.
Was war das nur?
Sie überlegte. Ihr Hals wurde trocken. Innerlich zitterte sie.
Schweiß stand ihr auf der Stirn. Einige Tropfen lösten sich und rannen über das Gesicht.
Wo hatte sie diese Melodien schon gehört, die so alt waren?
Shao empfand sie nicht als Fremdkörper. Sie waren da, füllten sie aus, das Erinnerungsvermögen trieb sie in die Höhe, und plötzlich wußte sie Bescheid.
Diese Erkenntnis traf sie schlagartig.
Nicht sie hatte sich erinnert, es war eine andere, die mit den ihr entgegenschwingenden Lauten gelockt werden sollte.
Amaterasu, die Sonnengöttin!
Shao spürte die innerlichen Reize, die sie durchfluteten. Sie hätte niemals damit gerechnet, daß Amaterasu auf diese Art und Weise mit ihr aus der Gefangenschaft her in Kontakt treten würde, aber sie hatte es geschafft. Die Sonnengöttin füllte Shao mit ihrem Geist aus und gab ihr auch die Erinnerung.
Aus Shao war wieder einmal Amaterasu geworden!
Nur hatte sich Amaterasu nicht aus der Gefangenschaft befreien können. Einen Erfolg hatte sie dennoch errungen. Sie schaffte es, ihren Geist zu lösen und konnte deshalb mit der Chinesin Kontakt aufnehmen.
Shao begann, die Melodien zu verstehen. Jetzt hörte sie das Locken heraus, aber auch die falschen Töne, vor denen sie sich in acht nehmen mußte, und sie vernahm eine Stimme, die sie warnte.
»Falsche Freunde sind es. Versuche dich zu wehren. Sie wollen über deine Person an mich herankommen. Es sind die falschen Freunde. Es sind Menschen, denen du nicht trauen darfst. Sei stark, auch wenn sie es mit allen Mitteln versuchen. Stemme dich dagegen an. Versuche es, du mußt es, sonst bist du verloren…«
Das letzte Wort
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