039 - Vor der Tür stand Frankenstein
der
Beamten leuchtete mit einer Taschenlampe in den nassen Straßengraben. Drei,
vier weitere flammten auf.
Unter dem feuchten Laub, zwischen dornigem Gestrüpp, abgerissenen Zweigen
und Ästen – zeigte sich eine große, unförmige Hand, die zuckend in die Höhe
gestreckt wurde.
●
Nicole Mercier verließ die Gaststube.
Nachdem George auf die Toilette gegangen war, waren die meisten anderen
ebenfalls aufgebrochen. Sie zogen über den Alten her, der als Pantoffelheld
bekannt war und dem nun wohl doch die Angst gepackt haben musste, so dass er
sich heimlich davonstahl, um noch vor Mitternacht zu Hause zu sein. Auf der
Toilette hatte man ihn nicht gefunden.
Nicole war müde. Langsam stieg sie die Treppen hoch, bemerkte, dass ihre
Tür nicht abgeschlossen war, aber sie machte sich keine weiteren Gedanken
darüber.
Sie drückte die Klinke herab und ging in das finstere Zimmer.
●
»Nicht schießen!«, brüllte Kommissar Lucell.
Dem Arm fehlte die Verbindung zum Körper. In dem flachen Graben konnte der
riesenhafte Fremde, der inzwischen als Frankenstein betitelt wurde, unmöglich liegen.
Maurice Lucell hob einen Stock vom Boden auf und begann in unmittelbarer
Nachbarschaft des aus dem Laub- und Dornenhügel ragenden Areals den Boden
aufzustochern und legte den Arm frei – er war Frankenstein bei dem Autounfall
abgerissen worden!
»Aber wieso hat er sich eben noch bewegt?«
»Eine Muskel- und Nervenreflexion, weiter nichts«, entgegnete Alain
Fermand, der hinkend an der Seite des Freundes auftauchte. Er starrte auf den
blutigen Armstumpf, der bis zur Ellenbeuge erhalten war. Wie ein Ast von einem
morschen Baum abbrach, so war Frankensteins Arm aus der Beuge gerissen worden.
»Reflexionen – noch nach zehn Minuten? Ich habe deutlich gesehen, wie die
Finger eine krallenförmige Stellung einnahmen und sich dann entspannten!«
»Es wird von Fällen berichtet, wonach guillotinierte Menschen von der Bank
aufsprangen und bis zu fünfzig Meter weit ohne Kopf rannten. Eine Reflexion der
völlig intakten Muskeln. Die Köpfe, die beispielsweise bei solchen
Massenhinrichtungen in Auffangkörbe zu rollen pflegten, lebten nach dem
Abschlagen noch, Maurice.«
Alain Fermands Forscherdrang war nicht mehr zu zügeln. Er verlangte, dass
man ihm ein Tuch verschaffte. Mit einer Astgabel hob der Gelehrte den
unförmigen Arm herum, direkt auf den ausgebreiteten Lappen. Ein scharfer Geruch
stieg von der kranken, schwammartigen Haut auf.
Geruch nach ätzender Säure – wie Schwefel!
Nicole Mercier hatte davon gesprochen, kurz nachdem sie auf das tote
Schwein im Stall gestoßen war.
Den abgerissenen Arm wickelte der Forscher vorsichtig ein, schlug die Ecken
noch mit Hilfe des Stockes um und vergewisserte sich, dass das blutige
Körperteil wirklich von allen Seiten bedeckt war.
Selbst dann nahm er das Bündel noch nicht an sich. Er ließ sich die
Autohandschuhe aus seinem zertrümmerten Wagen bringen, stülpte sie über und
nahm das Paket mit dem unheimlichen Inhalt vorsichtig hoch.
»Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um dem Geheimnis auf die Spur zu
kommen. Ob die kleine Laboranlage zur Untersuchung ausreicht, wird sich rasch
herausstellen. Andernfalls werde ich nach Reims zurückfahren und dort die
Untersuchung vornehmen. Diesmal allerdings mit der Französischen Bahn«, fügte
er grinsend hinzu.
●
Sie knipste die kleine, mit einem roten Schirm überzogene Tischlampe an und
begann sich auszukleiden. Nicole ahnte nicht, dass jede ihrer Bewegungen von
großen, aufmerksamen Augen verfolgt wurden.
Jean Dumont stand neben dem wuchtigen Kleiderschrank, unmittelbar hinter
dem Vorhang, der die Nische zwischen der linken Schrankwand und dem Türpfosten
verdeckte, und konnte von hier aus zwei Drittel des Zimmers überblicken.
Nicole ging in den angrenzenden Raum, der notdürftig als Bad eingerichtet
war, duschte sich eiskalt ab und frottierte ihren Körper trocken. Dann kehrte
sie in den schwach beleuchteten Wohnraum zurück und ging ins Bett, nachdem sie
das Fenster weit geöffnet hatte. Sie schloss die Augen, um die trüben Gedanken
zu vertreiben, die sie zu übermannen drohten. Die Müdigkeit ließ ihre Glieder
schwer wie Blei werden. Es tat gut, so dazuliegen, langsam einzuschlummern, und
...
Sie zuckte zusammen. Da war ein Geräusch und eine schattengleiche Bewegung
neben dem Kopfende ihres Bettes.
»Hallo, Nicole«, flüsterte eine Stimme.
Eine breitschultrige Gestalt beugte sich
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