0392 - Der Rachedolch
auflöste! Sie begriff Zamorra nicht. Sonst war er doch viel neugieriger gewesen!
Unter normalen Umständen hätte er längst angefangen diesem Rätsel nachzugehen…
Nicole öffnete.
Ein junger Mann im Anzug stand vor ihr, sah etwas zerrupft aus, hatte eine Schramme auf der Stirn…
Irritiert wich Nicole einen Schritt zurück. Eine Falle? Ein Köder, daß sie nachlässig werden sollte? Ablenkung?
»Mademoiselle Duval?« fragte der Mann. »Ist Professor Zamorra auch hier? Ich bin Spokayne. Lieutenant Spokayne.«
Sie entsann sich. Jetzt erkannte sie ihn auch wieder. Der junge Einsatzleiter bei der frühnachmittäglichen Autobahnaktion!
»Meine Güte, was ist mit Ihnen? Kommen Sie herein!« verlangte sie. »Was ist passiert?«
»Ich hatte einen Unfall«, sagte er. »Etwa eine Meile von hier auf der Durchgangsstraße. Ein unbeleuchteter Wagen raste mir entgegen. Ich mußte in den Graben fahren. Mein Auto ist hin. Gott sei Dank sah ich auf der Karte, daß es nicht mehr weit bis zu Ihnen war. Kann ich ein Glas Wasser bekommen?«
»Sie können das Wasser auch mit ein wenig Whisky verdünnen, damit es nicht so nach Wasser schmeckt«, bot Nicole an. »Oder mit allem, was Sie wollen. Lassen Sie erst mal nach Ihren Verletzungen sehen.«
»Nichts. Nur ein paar Schrammen«, sagte Spokayne.
Ein unbeleuchteter Wagen, dachte Nicole. Wenn das ein Zufall war, wollte sie Friederike Meisenkaiser heißen.
»Kommen Sie ins Wohnzimmer, Sir. Ich bin gleich wieder da. Machen Sie es sich bequem. Ich hole den Verbandskasten aus dem Bad…«
Sie eilte zum Schlafzimmer hinüber. Verblüfft betrachtete sie Zamorra. Der war doch tatsächlich eingeschlafen!
»Das gibt’s nicht«, murmelte sie. Sie rüttelte ihn. »He. Der Lieutenant ist da! Lieutenant Spokayne! Er hatte einen Unfall.«
»Schwer verletzt?« fragte Zamorra träge.
»Ein paar Schrammen…«
»Dann wirst du ja wohl allein mit ihm klar kommen«, murmelte Zamorra.
»Verflixt, steh auff« fauchte Nicole ihn an. »Es dürfte doch klar sein, daß etwas passiert ist. Und es betrifft uns, sonst wäre der Lieutenant nicht hierher gekommen, noch dazu so spät in der Nacht! Steh auf, zieh dich an und komm. Oder muß ich dich an den Haaren ins Wohnzimmer schleppen?«
»Schon gut«, murmelte er. Er richtete sich langsam auf und seufzte. Nicole kleidete sich hastig an. Jeans, Pullover, Schuhe… das reichte erst mal. Als sie aus dem Zimmer wirbelte, erhob sich Zamorra mit trägen Bewegungen.
Es fiel ihm schwer. Er schien keine Kraft mehr in den Gliedern zu haben.
Wie nach einer langen schweren Krankheit. Langsam zog er sich an. Als er mit den Armen in die Ärmel des Hemdes glitt, durchzog ihn ein stechender Schmerz, der von der Schnittstelle an der Brust ausging. Zamorra verzog das Gesicht. Offenbar war die Sache doch nicht so harmlos. Sollte der Dolch vergiftet gewesen sein? Aber Unsinn. Dann wäre er längst tot. Er streckte die Hand nach dem Amulett aus, das neben ihm auf dem Nachttisch lag, um es sich umzuhängen - aber die Hand zuckte zurück. Zamorra verließ das Schlafzimmer ohne das Amulett.
Wenn ich es brauche, kann ich es mit einem Gedankenbefehl zu mir rufen, dachte er.
Er atmete tief durch. Trotzdem kam zu wenig Luft in seine Lungen.
Als er das Wohnzimmer betrat, hatte Nicole den Polizisten in seinem ramponierten Zivil schon verpflastert. Spokayne hielt ein recht gut gefülltes Whiskyglas in der Hand und nahm gerade einen kräftigen Schluck. Zamorra lächelte.
»Lieutenant…? Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich setze mich ja schließlich auch. Was führt Sie zu uns?«
Er ließ sich Spokayne gegenüber in einen Sessel sinken und streckte erleichtert die Beine aus. Er kam sich vor, als habe er die Eigernordwand bezwungen. Die paar Meter hatten ihn angestrengt.
Meine Güte, so matt war ich noch nie… ich muß unbedingt einmal richtig ausschlafen …
»Der Mann, der einen unserer Kollegen ermordete, ihm Uniform und Dienstwagen stahl und Sie überfiel, ist unter mysteriösen Umständen verschwunden«, begann Spokayne. Hastig erzählte er, was sich abgespielt hatte, bis hin zu dem eben erfolgten Unfall draußen auf der Straße.
Zamorra hörte zu, aber die Worte rauschten an ihm vorbei. Er mußte sich regelrecht zwingen, zuzuhören. Etwas in ihm wollte wissen, was passiert war und wollte ihn zum analytischen Nachdenken zwingen. Aber das andere war stärker und flüsterte ihm zu, daß das doch schließlich nicht seine Sache sei.
»Warum kommen Sie deshalb zu uns?«
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