0395 - Menschenschmuggel in Manhattan
wirklich nicht sofort sehen, dass der Mann auf dem Bild tot war.
Wieder starrte sie auf die Vergrößerung. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Es ist schrecklich schwer, etwas Bestimmtes zu sagen. Hier kommen so viele Menschen durch.«
»Sind Sie sicher, diesen Mann noch nie gesehen zu haben?«
»Nein, ganz und gar nicht. Es kann gut sein, dass er schon einmal hier war. Aber bestimmt gehört er nicht zu unseren ständigen Kindern.«
»Wieder die Kinder«, murmelte Phil.
»Unser Mister Paulding nennt sie so«, meinte Anet Sheridan, sanft erklärend.
»Ist er da?«, fragte ich.
»Wer?«
»Mister Paulding.«
»Ach so, ja. Da ist er schon, aber er wird Ihnen noch weniger helfen können. Er kümmert sich nur um die wichtigsten Dinge. Er hat sehr viel zu tun.«
»Wir würden ihn nicht lange stören. Vielleicht fragen Sie einmal nach?«
»Ja, natürlich.«
Sie ließ uns stehen und verschwand wieder hinter der Tür. Das Foto nahm sie mit.
Es dauerte nur ein paar Minuten, dann kam sie wieder.
»Mister Paulding lässt Sie zu sich bitten.«
Wir folgten ihr durch die helle Tür in einen kleinen freundlichen Raum, der ganz offensichtlich ihr Reich war.
Regale mit Ordnern und Akten, eine Unmenge von Karteikästen. An einem kleinen Schreibmaschinentisch tippte eifrig ein junges Mädchen.
Anet Sheridan ging weiter zu einer zweiten Tür, öffnete sie und ließ uns Vorbeigehen. Dann schloss sie die Tür hinter uns.
Das Büro des Chefs war groß und hell. An den mit dunkelgelbem Leinen bespannten Wänden hingen Kupferstiche von Golfplätzen und Männern in verschiedenen Schlaghaltungen.
Tiefdunkel gebeizte Regale mit dicken Büchern, die nicht so aussahen, als wären sie schon gelesen worden, ein Schreibtisch, der so leer und sauber war wie das Meer an einem stillen Sommertag. Ein weiches dunkelblaues Sofa, zwei Sessel in der gleichen Farbe und ein Mann.
Er stand auf und kam uns entgegen. Ich schätzte ihn auf mindestens siebzig Jahre. Er hatte dichtes weißes Haar, einen schneeweißen Vollbart, dicke, buschige, weiße Augenbrauen und hellblaue große Augen in einem sonnengebräunten faltigen Gesicht. Sein schmaler Körper wirkte elastisch und jung. Er trug einen nachtblauen Anzug.
»Mister Paulding?«, fragte ich.
»Ganz recht. Womit kann ich dienen?«
»Wir kommen vom FBI. Ein Mann ist tot aufgefunden worden, und wir versuchen, seine Identität festzustellen.« Ich reichte ihm unsere Ausweise.
»Agent Cotton und Agent Decker«, murmelte er. »Meine Assistentin nahm schon an, dass Sie von der Polizei sind. Sie hat eine sehr gute Menschenkenntnis.«
»Ja«, sagte ich höflich.
»Das ist wichtig in unserem Beruf.« Er machte eine Pause und ließ seine Augen auf uns ruhen.
»Fast könnte man auch Berufung sagen«, meinte er dann noch und lächelte warm.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz, im Stehen kann man so schlecht sprechen«, er winkte uns zu dem Sofa hinüber und setzte sich selbst in einen der blauen Sessel.
Ich stellte fest, dass der Sessel haargenau die Farbe hatte wie Pauldings Anzug.
Als er das Foto des Ermordeten ansah, fuhr er sich mit der Hand durch den weißen Bart.
»Das Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Wir hatten vor ein paar Wochen einen jungen Mann hier. Er wollte von uns Arbeit, und obwohl er kaum englisch sprechen konnte, war er nicht dazu zu bringen, einen Fortbildungskursus zu besuchen.«
»Erinnern Sie sich noch an den Namen des jungen Mannes?«, fragte Phil.
Mister Paulding dachte nach.
»Nein, leider nicht, aber das ist kein Problem: Miss Sherdan«, rief er. Fast sofort ging die helle Tür auf, und Anet kam herein.
»Ja?«
»Wir hatten da vor ein paar Wochen einen jungen Mann, der nicht in die Sprachschule wollte, erinnern Sie sich?«
»Ich weiß nicht, es sind so viele…«
»Doch, doch, ich glaube fast, das hier ist das Gesicht. Können Sie nicht einmal die Eingänge der letzten Wochen nachprüfen?«
»Natürlich.« Sie nickte und ging hinaus.
»Sehen Sie«, begann Paulding wieder, »wir haben hier ein reiches Arbeitsfeld. Die Leute kommen in den USA an, und wir helfen ihnen, Amerikaner zu werden.«
»Eine interessante Aufgabe«, sagte Phil.
»Ja, ja, aber nicht ganz einfach. Man muss Idealist sein. Manchmal wehren sich unsere Kinder heftig. Sie wollen nicht, dass man ihnen hilft. Es ist unsere größte Aufgabe, erst ihr Misstrauen zu überwinden.«
»Sehr bewundernswert«, gab ich zu. Die Tür ging wieder auf, und Anet Sheridan kam herein. Sie hatte einen Stapel
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