04 - Die Tote im Klosterbrunnen
direkt am Gipfel des Berges vorbei auf die andere Seite der Halbinsel. Dann fällt er steil zu der Ortschaft ab, in der das Kupfer gewonnen wird.«
Odar fügte hinzu: »Ich habe in meiner Satteltasche einen Schlauch mit cuirm dabei, der uns die winterliche Kälte vom Leib halten wird, Schwester. Möchtet Ihr einen Schluck?«
»Eine gute Idee, cuirm mitzubringen, Odar«, erwiderte Fidelma beifällig. »Aber ich finde es besser, ihn für später aufzuheben, denn bald werden wir den Schutz des Waldes verlassen und die eiskalten Bergrücken überqueren müssen. Dann wird es noch kälter, und wir können einen kräftigenden Schluck gut gebrauchen.«
»In Euren Worten liegt große Weisheit«, stimmte Odar umständlich zu.
Sie ritten schweigend weiter und zogen die Köpfe ein, als der Wind allmählich auffrischte und ihnen feinen Pulverschnee ins Gesicht trieb. Im Westen ballten sich neue Schneewolken zusammen, und Fidelma war sich nicht sicher, ob sie deshalb dankbar oder verzweifelt sein sollte. Einerseits dankbar, weil die Wolken den hellen Mond verdecken würden, dessen Licht von der Schneedecke zurückgeworfen wurde und die Nacht fast taghell erleuchtete, so daß ihre Umrisse vor dem weißen Hintergrund selbst aus beträchtlicher Entfernung weithin sichtbar waren. Andererseits verzweifelt, weil die schweren Wolken noch mehr Schnee zu bringen drohten, so daß ihre Reise denkbar beschwerlich und gefährlich zu werden versprach.
Nachdem sie etwa fünf Meilen zurückgelegt hatten, zeigte sich, wie klug es gewesen war, Fidelmas Rat zu befolgen und den cuirm , den Alkohol, den Odar mitgenommen hatte, aufzuheben, denn trotz ihrer warmen Umhänge froren sie erbärmlich. Das Gelände war felsig und voller Höhlen. Auf einer kleinen Lichtung brachte Fidelma ihr Pferd zum Stehen und schlug Odar vor, jetzt jedem von ihnen einen Schluck cuirm zu gönnen. Derart gestärkt ritten sie weiter. Nach etwa einer Meile gelangten sie auf verschlungenen Pfaden wieder abwärts und aus den Bergen hinaus und ritten schließlich durch sanfte Hügel auf die Küste zu. Sie sahen das schwarze, dumpf brütende Meer, das hin und wieder glitzerte, wenn sich die Schneewolken teilten und dem Mond gestatteten, seine Strahlen herabzuschicken.
Plötzlich scheuten die Pferde, und ganz in der Nähe begannen Wölfe zu heulen. Fidelma blickte den Hang hinauf, erspähte mehrere dunkle Schatten, die über den weißen Schnee dahineilten, und unterdrückte ein Schaudern.
»Die Königin der Nacht leuchtet hell«, murmelte Ross besorgt. »Vielleicht zu hell.«
Fidelma fragte sich im ersten Moment, wovon er sprach. Dann fiel ihr wieder ein, daß es unter Seeleuten verpönt war, Mond oder Sonne direkt beim Namen zu nennen. Den Mond bezeichnete man häufig als »Königin der Nacht« oder einfach als »das Helle«. In der alten Sprache von Éireann gab es noch viele andere Umschreibungen für den Mond, so daß sein heiliger Name niemals erwähnt werden mußte, denn früher, in heidnischen Zeiten, hielt man den Mond für eine Göttin, deren Macht kein Sterblicher heraufbeschwören durfte, indem er ihren Namen aussprach.
»Hoffentlich ziehen dichtere Wolken auf, bevor wir die Ortschaft erreichen«, erwiderte Fidelma.
Das Heulen des Wolfsrudels wurde leiser und verzog sich allmählich über die Berge.
Eine Ewigkeit schien vergangen, bevor Ross sein Pferd zum Stehen brachte und hügelabwärts deutete. Tief unter ihnen konnte Fidelma das Glühen von Lagerfeuern ausmachen.
»Das sind die Gebäude in der Nähe der Minen. Sie liegen inmitten von Feldern, auf der Kuppe einer Klippe. Unterhalb der Klippe kommt man zum Strand und zu dem Hafen, von dem, wie mir die Inselbewohner von Dóirse erzählten, das gallische Schiff losgesegelt ist.«
Fidelma spähte ins Dunkel. Natürlich, vorher hatte sich alles so leicht dahingesagt: wir reiten über die Halbinsel zu den Minen und finden heraus, was mit der Besatzung des Handelsschiffes geschehen ist. Hier, im eiskalten Licht des Mondes, wurden ihr die Schwächen ihres Planes bewußt. Als Ross ihr Grübeln mit den Worten: »Was nun, Schwester?« unterbrach, hätte sie ihn in ihrer gereizten Stimmung beinahe barsch zurechtgewiesen.
»Wißt Ihr, wie viele Leute dort unten wohnen?«
»Zahlreiche Arbeiter aus den Minen und deren Familien.«
»Alles Gefangene, Geiseln und Sklaven?«
Ross zuckte die Achseln.
»Alle wohl nicht, aber doch viele. Sollten die Gallier darunter sein, müßten wir sie leicht finden. Zumindest werden
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