04 - Die Tote im Klosterbrunnen
zu den Bergen hin diente. Das nächste Gebäude war etwa dreißig Meter entfernt. Die Hütte lag offenbar im Dunkeln, doch hinter einem mit Sackleinen verhängten Fenster vermeinte sie das schwache Flackern einer Laterne zu sehen. Sie trat näher ans Fenster und lauschte angestrengt. Zuerst konnte sie nichts hören, doch dann vernahm sie ein merkwürdiges Kratzen, wie von Metall auf Metall. Sie erhob sich auf die Zehenspitzen, lüpfte behutsam das Sackleinen und spähte vorsichtig hinein.
Die Hütte schien in zwei Räume unterteilt zu sein, von denen man den einen durch das Fenster einsehen konnte. Er war leer, nur eine Lampe, die an einem der Dachbalken hing, verbreitete spärliches Licht. Mehrere Pfosten trugen die Decke. Am Fuße eines dieser Pfosten kauerte eine Gestalt: ein Mann, in braune Gewänder gehüllt, den Oberkörper über die Füße gebeugt. Er schien an irgend etwas zu arbeiten. Fidelma atmete schnell. Der Mann trug die Tonsur des Heiligen Petrus von Rom. Sie vergewisserte sich, daß sich niemand sonst in dem Raum aufhielt. Durch das Fenster konnte man unmöglich einsteigen, es war mit einem Holzgitter gesichert. Sie ging zur Tür und fand sie von außen mit einem schweren Querbalken verschlossen. Fidelma blickte sich kurz um, und da niemand in Sicht war, hob sie den Balken hoch und ließ ihn aus seiner eisernen Befestigung gleiten, so daß sie die Tür öffnen konnte.
Sie schlüpfte hinein und zog die Tür hinter sich zu. Mit dem Rücken zum Eingang blieb sie stehen und schaute sich um.
Der Mann auf dem Boden war nun nicht mehr mit seinen Füßen beschäftigt, sondern saß, gegen den Pfosten gesunken, da wie ein Schlafender. Seine Augen waren fest geschlossen.
Fidelma trat einen Schritt vor und lächelte.
»Jetzt ist keine Zeit zum Schlafen, Bruder Eadulf«, flüsterte sie.
Als hätte man plötzlich einen Schwall kalten Wassers über ihn gegossen, flog der Kopf des Mannes nach oben, und sein Körper straffte sich. Mit offenem Mund starrte er auf die Gestalt, die da im Halbdunkel vor ihm stand.
Sie trat noch einen Schritt vor, bis das trübe Licht der Lampe auf ihr Gesicht fiel.
»Mein Gott! Seid Ihr’s wirklich?« fragte er mit ungläubigem Staunen.
Impulsiv beugte sich Fidelma vor und ergriff Eadulfs Hände, die er ihr entgegenstreckte. Seine Arme waren frei, doch einer seiner Knöchel war an den Holzpfosten gekettet, neben dem er kauerte. Er wirkte schmutzig und so erschöpft, als hätte er eine Woche weder gegessen noch geschlafen. Ganz offensichtlich traute er seinen Augen nicht und hielt ihre Hände fest umklammert, als fürchte er, sie sei nur ein Trugbild und könne plötzlich wieder verschwinden.
»Fidelma!«
Einige Augenblicke brachte keiner von beiden ein Wort hervor. Schließlich brach Fidelma das Schweigen.
»Ausgerechnet Ihr, Eadulf«, sagte sie und zwang sich zu einem tadelnden Tonfall, obwohl ihre Stimme stockte. »Bruder Eadulf, von allen Menschen seid Ihr der letzte, den ich in meiner Heimat zu sehen erwartete.«
»Um die Wahrheit zu sagen«, erwiderte Eadulf und verzog dabei den Mund zu einem Grinsen, »um die Wahrheit zu sagen, ich muß gestehen, daß ich die Hoffnung schon aufgegeben hatte, überhaupt irgendeinen meiner Bekannten jemals wiederzusehen. Aber wie kommt Ihr hierher? Ihr seid doch sicher nicht mit diesen Leuten befreundet …?«
»Es gibt so viel zu erklären«, erwiderte Fidelma kopfschüttelnd. »Aber wir müssen uns beeilen und Euch von hier fortbringen, bevor man uns entdeckt. Wie seid Ihr gefesselt?«
Eadulf verkniff sich die zahllosen Fragen, die ihm durch den Kopf schossen, und deutete auf die eiserne Fußfessel an seinem Knöchel.
»Ich habe versucht, sie zu lösen, aber ich verfüge nicht über das richtige Werkzeug.«
Mit vor Konzentration gerunzelter Stirn untersuchte Fidelma das Schloß. Es war ein einfacher Mechanismus, doch man brauchte etwas Langes, Dünnes, um ihn aufzubrechen. Sie griff in ihre crumena , zog das Messer heraus, das sie stets bei sich trug, und versuchte, die Spitze in die Öffnung des Schlosses zu stecken. Sie war zu breit.
Eadulf sah niedergeschlagen zu, wie sie sich umblickte, offenbar auf der Suche nach einen langen Metallstück, mit dem sie das Schloß aufbrechen konnte.
»Hier ist nichts in Reichweite. Ich habe schon nachgesehen.«
Fidelma antwortete nicht, sondern erhob sich und untersuchte die Laterne, die an dem Holzbalken hin. Sie reichte hinauf, nahm sie ab und betrachtete prüfend den Metallnagel, an dem
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