04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Häuptling verdingen mußte, damit er überhaupt genug verdiente, um unser Überleben zu sichern.«
Adnár hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Draigen war die jüngere von uns beiden, ich war zwei Jahre älter als sie. Wir mußten unseren Eltern auf ihrem winzigen Flecken Land von klein auf zur Hand gehen, und für unsere Ausbildung blieb weder Zeit noch Geld.«
Seine Stimme verriet Verbitterung, doch Fidelma sagte nichts dazu.
»Schon als Junge hatte ich nicht vor, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, ein Stück Land zu bearbeiten, das ohnehin nicht genug abwarf, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich war ehrgeizig und hatte andere Pläne. So schlich ich jedes Mal, wenn ein Krieger durch unsere Gegend kam, heimlich zur Herberge unseres Stammes und suchte ihn zu überreden, mir etwas über das Leben der Kämpfer zu erzählen, über ihre Regeln und ihre Ausbildung. Ich fertigte mir Waffen aus Holz an und ging in den Wald, wo ich übte, indem ich mit einem hölzernen Schwert gegen die Büsche kämpfte. Ich baute mir Pfeil und Bogen und bildete mich selbst zu einem hervorragenden Schützen aus. Ich wußte, daß dies meine einzige Chance war, einem Leben in Armut zu entkommen.
Sobald ich das Alter der Reife erreicht hatte, an meinem siebzehnten Geburtstag, als mich kein Gesetz mehr daran hindern konnte, verließ ich mein Elternhaus und suchte Gulban, den Häuptling der Beara, auf. Er führte Krieg gegen die Coreo Duibhne, jenseits der Grenzen seines Gebietes. Ich war ein ausgezeichneter Bogenschütze und erhielt schon bald das Kommando über eine Truppe von einhundert Mann. Im Alter von neunzehn Jahren ernannte mich Gulban zum cenn-feadhna , zum Hauptmann. Das war der stolzeste Tag meines Lebens.
Der Krieg brachte mir einen ansehnlichen Viehbestand, und als er vorbei war, kehrte ich hierher zurück und wurde zum bó-aire , zum Vieh-Häuptling, ernannt. Auch wenn das Land nicht mir gehörte, war meine Viehherde doch groß genug, um Einfluß und Wohlstand zu erringen. Ich schäme mich nicht, der Armut entronnen zu sein.«
»Das ist eine lobenswerte Geschichte, Adnár. Jeder Bericht darüber, wie Menschen ihre Schwierigkeiten überwinden, ist lobenswert. Doch das alles erklärt weder die Feindseligkeit zwischen Euch und Eurer Schwester noch, warum Ihr sie widernatürlicher Beziehungen bezichtigen solltet.«
Adnár verzog das Gesicht.
»Draigen redet viel von ihrer Treue zu unseren Eltern. Sie behauptet, ich hätte sie im Stich gelassen, dabei war sie ihnen gegenüber keinen Deut loyaler als ich. Auch sie wollte der Armut entkommen, genau wie ich. Kurz bevor sie das Alter der Reife erreichte, versuchte sie sogar, die heidnischen Geister – die Göttinnen aus uralter Zeit – um Hilfe anzurufen.«
Fidelma musterte ihn eingehend, doch Adnár schien in seine Erinnerungen versunken und wirkte nicht wie jemand, dem es darum ging, einen bestimmten Eindruck zu erwecken.
»Was hat sie getan?«
»In den Wäldern der Umgebung hauste eine alte Frau, die noch den althergebrachten Bräuchen anhing. Ihr Name war, soweit ich mich erinnere, Suanach. Alle Kinder hatten Angst vor ihr. Sie behauptete, Boí zu verehren, die Frau von Lugh, dem Gott der Künste und des Handwerks. Boí galt als die Göttin der Kühe oder als die Alte von Beara. Früher, in den dunklen Tagen des Heidentums, gehörte dieses Land zu ihrem Gebiet. Meine Festung ist nach ihr benannt. Dún Boí.«
»Hier leben noch viele alte Menschen, die sich an die früheren Zeiten und die traditionellen Götter klammern«, erklärte Fidelma. Das Christentum hatte sich erst in den letzten zweihundert Jahren in den fünf Königreichen ausgebreitet, und Fidelma war sich darüber im klaren, daß es noch immer abgelegene Gebiete gab, in denen der Glaube an die Ewiglebenden, an die alten Götter und Göttinnen, nach wie vor zahlreiche Anhänger hatte.
»In manchen Gegenden sind sogar die Berge nach diesen Gottheiten benannt«, bestätigte Adnár.
»Also geriet Eure Schwester unter den Einfluß dieser alten Heidin?« hakte Fidelma nach. »Wann kehrte sie zum Wahren Glauben zurück und trat den Ordensschwestern bei?«
Adnár grinste verschlagen.
»Wer hat denn behauptet, daß sie zum Wahren Glauben zurückgekehrt ist?«
Fidelma blickte ihn überrascht an.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Ich sage gar nichts. Ich deute lediglich eine Richtung an. Schon als junges Mädchen, besonders in
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