04 - Die Tote im Klosterbrunnen
der letzte, der aus seiner Stellung verdrängt wurde, und kam dann als geistlicher Berater zu mir. Kurz darauf starb die alte Äbtissin. Ich war nicht überrascht, als ich erfuhr, daß meine Schwester zu ihrer Nachfolgerin ernannt worden war.«
»Ihr wollt andeuten, daß Draigen rücksichtslos und ehrgeizig ist?«
»Darüber mögt Ihr Euch selbst ein Urteil bilden.«
»Gut. Außerdem behauptet Ihr, daß Bruder Febal allen Grund hat, Draigen zu hassen. Allen Grund, Feindschaft zwischen Euch und ihr zu entfachen, und allen Grund, Gerüchte über die Entdeckung des Leichnams in Umlauf zu setzen.«
»Aus der Sicht einer Außenstehenden mag das durchaus so erscheinen«, gab Adnár zu. »Ich werde nicht versuchen, Euch von meiner Meinung zu überzeugen. Der einzige Grund, warum ich Euch bei Eurer Ankunft gestern noch vor Draigen sprechen wollte, war der Wunsch, Euch vor bestimmten Dingen zu warnen und Euch zu bitten, die Richtungen, die ich angedeutet habe, weiterzuverfolgen. Ob Ihr Euch dazu entschließt oder nicht, ist allein Eure Sache. Ihr seid eine Advokatin der Gerichtsbarkeit, und lautet Euer Schlachtruf nicht quaere verum? «
»Die Wahrheit zu suchen – das ist der wichtigste Grundsatz unseres Handelns, nicht unser Schlachtruf«, verbesserte sie ihn schulmeisterlich. »Darum werde ich mich nach Kräften bemühen. Aber eine Anschuldigung ist noch keine Wahrheit. Ein Verdacht ist keine Tatsache. Ich werde noch mal mit Bruder Febal reden müssen.«
Adnár fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Lockenmähne.
»Ihr könnt gerne mit mir in die Festung kommen, obwohl ich nicht sicher bin, ob Febal jetzt dort ist. Als ich losritt, wollte er, glaube ich, Torcán und seine Männer zu einem Wallfahrtsort jenseits des Berges begleiten.«
»Wann wird er zurückkehren?«
»Mit Sicherheit erst spät am Abend.«
»Dann spreche ich morgen mit ihm. Sagt ihm, er soll in die Abtei kommen.«
Adnár blickte verlegen drein.
»Wahrscheinlich wird er das nur ungern tun. Draigen würde ihn nicht gerade willkommen heißen.«
»In dieser Angelegenheit haben meine Wünsche mehr Gewicht als Draigens«, antwortete Fidelma kalt. »Er kann mich nach dem Morgenmahl im Gästehaus treffen. Ich erwarte ihn dort.«
»Ich werde es ihm mitteilen«, seufzte Adnár.
Plötzlich hob er den Kopf und schien angestrengt zu lauschen. Einen Augenblick später hörte auch Fidelma das Knirschen von Schuhen auf dem gefrorenen Boden und drehte sich um. Auf dem Waldweg näherte sich die Gestalt einer Nonne, den Kopf gebeugt und in eine Kapuze gehüllt, einen sacculus über die Schulter gehängt. Sie sah Adnár und Fidelma erst, als sie nur noch wenige Meter entfernt war und Fidelma sie begrüßte.
»Guten Tag, Schwester.«
Das Mädchen blieb stehen und blickte erschrocken auf. Fidelma erkannte sie sofort. Es war die junge Schwester Lerben.
»Guten Tag«, murmelte sie.
Adnár erhob sich mit einem Lächeln.
»Es scheint bei den Nonnen aus der Abtei ja geradezu zur Gewohnheit zu werden, heute diesen Pfad entlangzuwandeln«, bemerkte er mit ironischem Unterton. »Ist es hier nicht gefährlich, Schwester, so ganz allein? Es wird bald dunkel.«
Lerbens Augen funkelten vor Zorn, dann senkte sie den Blick.
»Ich bin auf dem Weg zu …«, sie zögerte und schielte zu Fidelma hinüber, »zu Torcán von den Uí Fidgenti.« Ihre Hand wanderte automatisch zu ihrem sacculus.
Adnár lächelte weiter und schüttelte den Kopf.
»Tja, gerade habe ich Schwester Fidelma erklärt, daß Torcán meine Festung verlassen hat und erst heute abend wiederkommt. Kann ich ihm eine Nachricht überbringen?«
Schwester Lerben zögerte erneut, nickte dann rasch und zog einen kleinen, länglichen Gegenstand, der in ein Stück Stoff gewickelt war, aus ihrem sacculus.
»Würdet Ihr dafür sorgen, daß ihm das ausgehändigt wird? Er bat darum, es aus unserer Bibliothek ausleihen zu dürfen, und ich wurde beauftragt, es ihm zu bringen.«
»Ich werde es mit Vergnügen weitergeben, Schwester.«
Fidelma streckte die Hand aus und fing das Päckchen mühelos ab, bevor Adnar es an sich nehmen konnte. Sie wickelte es aus und starrte auf die Pergamenthandschrift.
»Das ist ja eine Kopie der Chroniken von Clonmacnoise, der großen Abtei, die vom Heiligen Kieran gegründet wurde.«
Sie hob den Blick und sah einen ängstlichen Ausdruck in Schwester Lerbens Gesicht. Adnar lächelte.
»Ich wußte gar nicht, daß der junge Torcán sich so für Geschichte interessiert«, sagte er. »Ich
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