04 - Die Tote im Klosterbrunnen
betrachtete Schwester Berrachs Kleidung. »Vorne auf Eurem Habit ist ein dunkler Fleck, Schwester. Ich nehme an, es handelt sich um Síomhas Blut?«
Die wachsamen blauen Augen blickten Fidelma ernst an.
»Ich habe Schwester Síomha nicht ermordet.«
»Ich glaube Euch. Wollt Ihr mir vertrauen und mir genau erzählen, was passiert ist?«
Schwester Berrach breitete in einer fast rührenden Geste die Arme aus.
»In der Abtei hier hält man mich für einfältig, nur weil ich körperlich behindert bin. Ich wurde schon so geboren. Probleme mit der Wirbelsäule, haben die Heilkundigen meiner Mutter erklärt. Aber mein Körper und meine Arme sind stark. Nur meine Beine sind nicht richtig gewachsen.«
Schwester Berrach hielt inne, doch Fidelma erwiderte nichts und wartete, bis das Mädchen weitersprach.
»Zuerst sagte der Heilkundige, so könnte ich nicht leben, und dann sagte er, so sollte ich nicht leben. Meine Mutter konnte mich in ihrer Gemeinschaft nicht aufziehen. Mein Vater wollte nichts mit mir zu tun haben. Nach meiner Geburt hat er meine Mutter verlassen. Also wuchs ich bei meiner Großmutter auf, doch sie wurde getötet, als ich noch klein war. Ich überlebte und wurde im Alter von drei Jahren in diese Abtei gebracht, und hier kümmerte sich Brónach um mich. Ich blieb am Leben, und ich lebe immer noch. Die Gemeinschaft war mein Zuhause, so lange ich zurückdenken kann.«
In ihrer Stimme lag ein leises Schluchzen. Jetzt verstand Fidelma, warum Schwester Brónach sich immer schützend vor das Mädchen stellte.
»Nun erzählt mir, was im Turm geschehen ist«, drängte sie freundlich.
»Jede Nacht, vorm Morgengrauen, wenn die meisten hier noch schlafen, stehe ich auf und gehe in die Bibliothek«, gestand Berrach. »Dann widme ich mich dem Lesen. Ich kenne schon fast alle bedeutenden Bücher aus unserem Bestand.«
Fidelma war verwundert.
»Warum wartet Ihr bis zum Morgengrauen, um zum Lesen in die Bibliothek zu gehen?«
Berrach lachte. Es klang jedoch alles andere als fröhlich.
»Sie halten mich für einfältig und glauben, daß ich nicht denken kann, geschweige denn lesen. Ich habe mir selbst beigebracht, meine Muttersprache zu lesen, aber ich verstehe auch Latein, Griechisch und sogar etwas Hebräisch.«
Fidelma musterte sie nachdenklich, doch das Mädchen schien keineswegs angeben zu wollen, sondern einfach Tatsachen festzustellen. Ein abwegiger Gedanke schoß Fidelma durch den Kopf.
»Wußtet Ihr, daß die Abtei eine Kopie der Chroniken von Clonmacnoise besitzt?«
Schwester Berrach nickte sofort.
»Es ist eine Kopie, die unsere Bibliothekarin angefertigt hat«, ergänzte sie bereitwillig.
»Habt Ihr sie gelesen?«
»Nein. Aber viele andere Bücher.«
»Erzählt weiter«, seufzte Fidelma enttäuscht. »Ihr sagtet, daß Ihr vorm Morgengrauen aufsteht und in die Bibliothek geht. Fürchtet Ihr Euch nicht, ganz allein an so einem Ort?«
»Eine Schwester tut stets Dienst im Turmzimmer darüber. In letzter Zeit«, sie zitterte, »war es Schwester Síomha, die die meisten Nachtwachen übernahm. Vor den jüngsten Ereignissen bestand keinerlei Gefahr für Leib und Leben, nichts, wovor man sich dort zu fürchten brauchte.«
Fidelma verzog das Gesicht.
»Es ging mir nicht um Gefahren für Leib und Leben. Was ist mit dem Klopfen unter der duirthech , das die Schwestern am Vortag erschreckte? Mir wurde berichtet, daß es schon früher zu hören war.«
Schwester Berrach überlegte einen Augenblick.
»Ja, aber nicht oft. Äbtissin Draigen sagt, die Geräusche kommen aus einer unterirdischen Höhle, in die Meerwasser einströmt, aber manchmal macht es den Schwestern Angst. Ich fürchte mich nicht, und wer ein guter Christ ist, braucht davor keine Angst zu haben.«
»Sehr lobenswert, Schwester. Haltet Ihr die Erklärung der Äbtissin für richtig, daß das Geräusch entsteht, wenn Wasser aus der Meerenge in eine unterirdische Höhle strömt?«
»Das ist durchaus eine Möglichkeit. Jedenfalls weitaus wahrscheinlicher als die Geschichten über die ruhelosen Geister all derer, die früher angeblich bei heidnischen Opferritualen an diesem Ort getötet wurden.«
»Aber Ihr seid Euch nicht sicher, daß es sich nur um Wasser in einer unterirdischen Höhle handelt?«
»Manchmal, wie vorgestern in der duirthech , scheint die Erklärung der Äbtissin durchaus überzeugend. Andere Male, besonders, wenn ich mich nachts in der Bibliothek aufhalte, klingt das Geräusch zwar schwächer, aber eher wie ein Schlagen, als
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