04 - Die Tote im Klosterbrunnen
lieber bewaffnen?«
Fidelma schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Wartet hier und kommt nicht herein, bis ich Euch rufe.«
Sie hob eine Hand, um ihre Kerze gegen die auffrischende Morgenbrise zu schützen, und ging hinüber zu dem Gebäude, das Schwester Lerben ihr gezeigt hatte. Es war ein langgestrecktes Holzhaus, das aus einem Korridor mit zwölf nebeneinanderliegenden, zellenähnlichen Kammern bestand. Anscheinend waren sämtliche Schlafhäuser der Gemeinschaft so gebaut.
Sie trat ein und blickte sich in dem dunklen Flur prüfend um.
Vom anderen Ende konnte sie Berrachs Schluchzen hören.
»Schwester Berrach!« rief Fidelma und bemühte sich, ihrer Stimme die Angst, die sie in Wirklichkeit verspürte, nicht anmerken zu lassen. »Schwester Berrach! Ich bin es, Fidelma.«
Es entstand eine Pause, das Weinen schien aufzuhören, nur noch vereinzeltes Schluchzen folgte.
»Berrach, ich bin Schwester Fidelma. Erinnert Ihr Euch?«
Nach einer erneuten Pause war Schwester Berrachs abwehrende Stimme zu hören.
»Selbstverständlich. Ich bin doch keine Idiotin.«
»Das habe ich auch nie gedacht«, erwiderte Fidelma in versöhnlichem Tonfall. »Können wir sprechen?«
»Seid Ihr allein?«
»Ganz allein, Berrach.«
»Dann tretet vor, bis ich Euch sehen kann.«
Langsam, mit hoch erhobener Kerze, schritt Fidelma den Korridor entlang. Sie hörte das Scharren von Möbelstücken und vermutete, daß Berrach eine Barrikade vor ihrer Tür beiseite räumte. Als sie sich dem Ende des Korridors näherte, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit.
»Halt!« befahl Berrach.
Fidelma gehorchte sofort.
Die Tür öffnete sich weiter, und Berrachs Kopf erschien, um nachzusehen, ob sonst niemand bei ihr war. Dann wurde die Tür ganz aufgestoßen.
»Kommt herein, Schwester.«
Fidelma betrachtete die junge Nonne. Ihre Augen waren gerötet, ihre Wangen tränenverschmiert. Fidelma betrat die Zelle und blieb stehen, während Berrach hinter ihr die Tür zuschlug und einen Tisch davorschob, um sie zu sichern.
»Warum verbarrikadiert Ihr Euch?« fragte Fidelma. »Vor wem habt Ihr Angst?«
Berrach wankte zu ihrem Bett, setzte sich darauf und umklammerte ihren dicken Schwarzdornstock.
»Wißt Ihr nicht, daß Schwester Síomha ermordet wurde?«
»Warum solltet Ihr deshalb die Tür Eurer Kammer verbarrikadieren?«
»Weil man mich des Verbrechens beschuldigen wird, und weil ich nicht weiß, was ich machen soll.«
Fidelma blickte sich um, entdeckte einen Hocker und nahm Platz. Die Kerze stellte sie auf den Tisch daneben.
»Warum sollte man gerade Euch der Tat bezichtigen?«
Schwester Berrach musterte sie verächtlich.
»Weil Äbtissin Draigen mich im Turm gesehen hat, als die Tote gefunden wurde. Und weil die meisten hier mich aufgrund meiner Behinderung ablehnen. Sie werden mich ganz bestimmt beschuldigen, Schwester Síomha ermordet zu haben.«
Fidelma lehnte sich zurück, faltete die Hände im Schoß und betrachtete Berrach lange und nachdenklich.
»Ihr scheint von Euerm Stottern befreit zu sein«, stellte sie vorsichtig fest.
Das Gesicht des Mädchens verzog sich zu einem zynischen Grinsen.
»Euch bleibt wohl nichts lange verborgen, Schwester Fidelma. Ganz im Gegensatz zu den anderen. Die sehen nur, was sie sehen wollen. Etwas anderes existiert für sie nicht.«
»Ich vermute, Ihr habt gestottert, weil es von Euch erwartet wurde?«
Schwester Berrachs Augen weiteten sich ein wenig.
»Ziemlich klug von Euch, Schwester.« Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »In einem mißgebildeten Körper steckt notwendigerweise auch ein mißgebildeter Geist. So lautet die Philosophie der Unwissenden. Ich stottere für sie, denn sie halten mich für einfältig. Würde ich mich verhalten wie ein intelligentes Wesen, könnten sie auf die Idee kommen, ich sei von einem bösen Geist besessen.«
»Aber mir gegenüber seid Ihr ehrlich. Warum könnt Ihr das nicht auch gegenüber anderen sein?«
Wieder verzog Schwester Berrach den Mund.
»Ich bin Euch gegenüber ehrlich, weil Ihr hinter den Vorhang aus Vorurteilen schaut, wo andere nicht hingucken.«
»Ihr schmeichelt mir.«
»Schmeichelei ist nicht meine Art.«
»Erzählt mir, was passiert ist.«
»Heute nacht?«
»Ja. Äbtissin Draigen sah Euch aus dem Raum kommen, in dem die Wasseruhr steht. Schwester Síomha wurde, wie Ihr wißt, enthauptet in jenem Raum gefunden. Ihr hattet es eilig und habt die Äbtissin beiseitegestoßen, so daß ihre Kerze herunterfiel und erlosch.« Fidelma
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