04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Kopf erhoben und die Augen auf die der Äbtissin geheftet.
»In dieser Abtei sind Dinge geschehen, die unter uns große Bestürzung ausgelöst haben. Bestürzung und Furcht. Heute morgen wurde, wie Ihr wißt, unsere rechtaire , Schwester Síomha, grausam ermordet. Ohne über umfassende Informationen zu verfügen, beschuldigte ich eine der Unsrigen, die Tat begangen zu haben. Ich war so von dem Gedanken besessen, die Person zu bestrafen, die ich für die Täterin hielt, daß ich darüber ganz die Lehren Unseres Herrn vergaß. Denn heißt es nicht im Johannes-Evangelium: ›Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein‹? Ich aber habe gesündigt, und ich warf einen Stein. Für mein unrechtes Handeln erflehe ich Verzeihung, und ich will von heute an ein Jahr lang täglich Buße tun. Die Buße soll mir von Euch, meine Schwestern, die Ihr hier versammelt seid, auferlegt werden.«
Sie drehte sich um und sah Schwester Lerben an. Die Novizin stand hocherhobenen Hauptes da, geradezu herausfordernd. Fidelma war besorgt über die Heftigkeit der unterdrückten Wut, die sich in ihrer Miene widerspiegelte. Mit Lerben wird es wohl bald Schwierigkeiten geben, dachte sie.
»Darüberhinaus habe ich unsere junge Schwester Lerben irregeleitet und sie, nachdem ich sie zu meiner neuen rechtaire ernannt hatte, gebeten, meinen Rat zu befolgen und entsprechend zu handeln. Dafür übernehme ich die volle Verantwortung. Lerben verfügte nicht über genügend Erfahrung, um zu erkennen, daß ich im Irrtum war. Ich entschuldige mich in ihrem Namen.«
Vor den erstaunten Augen der versammelten Schwestern verließ Lerben plötzlich geräuschvoll die Kapelle – wie ein trotziges Kind.
Äbtissin Draigen schaute ihr traurig nach. Es wurde still, bis sie ihre Aufmerksamkeit Schwester Berrach zuwandte.
»Schwester Berrach, vor Gott und vor dieser Versammlung bitte ich Euch um Verzeihung. Angesichts des schrecklichen Todes von Schwester Síomha und der namenlosen Toten, die wir in unserem Brunnen entdeckten, veranlaßten mich Furcht und Abscheu, Euch als ›Zauberin‹ zu beschimpfen und die hier Versammelten anzustiften, Euch etwas zuleide zu tun. Ich allein trage die Schuld an dieser Entgleisung, und an Euch wende ich mich nun und bitte Euch um Absolution.«
Jetzt richteten sich alle Augen auf Schwester Berrach.
Sie schlurfte einen Schritt vor. Es herrschte gespanntes Schweigen, während sie dastand, als zögere sie, ihre Entscheidung zu verkünden. Fidelma sah, daß die Gesichtsmuskeln der Äbtissin zuckten. Es fiel ihr offenbar nicht leicht, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Fidelma fragte sich, ob Berrach die Entschuldigung der Äbtissin annehmen würde. Dann begann das Mädchen zu sprechen.
»Mutter Oberin, Ihr habt die Worte des Evangelisten Johannes zitiert. Johannes hat gesagt, daß wir uns selbst betrügen, wenn wir behaupten, völlig frei von Sünde zu sein. Die Anerkennung unserer Sünden und die Beichte sind die ersten Schritte zur Erlösung. Ich kann Euch Eure Sünde vergeben … doch davon lossprechen kann ich Euch nicht. Das kann allein Gott, der Allmächtige.«
Äbtissin Draigen sah aus, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. Solche Worte hatte sie zweifellos nicht erwartet. Überraschtes Gemurmel ging durch die Reihen der Versammelten. Plötzlich hatten sie alle bemerkt, daß Berrach nicht mehr stotterte, sondern klar und deutlich und mit ausdrucksvoller Stimme sprach.
Schwester Berrach machte eine halbe Drehung, schaukelte langsam den Gang hinunter und verschwand durch den Ausgang.
Es war still, bis die Türen hinter ihr ins Schloß fielen.
»Ein wahres Wort: nur Gott allein kann uns von unseren Verfehlungen lossprechen. Wir Menschen können nur verzeihen.«
Alle Köpfe flogen herum, als Schwester Brónach einen Schritt vortrat. Sie hatte ohne Groll gesprochen.
»Amen!« fügte Fidelma laut hinzu, da sie sah, daß die Versammelten zögerten und nicht wußten, wie sie reagieren sollten.
Allmählich erhob sich zustimmendes Gemurmel. Äbtissin Draigen senkte den Kopf zum Zeichen, daß sie den Urteilsspruch der Versammlung annehmen werde, und kehrte an ihren Platz zurück.
Die Vorsängerin erhob sich und begann zu singen:
Maria de tribu Iuda
summi mater Domini,
opportunam dedit curam
aegrotanti homini …
»Maria vom Stamme Juda, Mutter des Allmächtigen, hat rechtzeitige Heilung für die kranke Menschheit uns gebracht.«
Rasch beugte Fidelma die Knie in Richtung Altar, drehte sich um und eilte
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