04 - Die Tote im Klosterbrunnen
daß die Glocke zum Frühgottesdienst läutet. Die Gemeinde erwartet Euch.«
»Ich habe Ohren, Lerben. Wenn meine Tür geschlossen ist, solltet Ihr anklopfen, bevor Ihr eintretet«, bellte Äbtissin Draigen gereizt. Die Novizin wirkte bestürzt. Sie hatte diese Reaktion offensichtlich nicht erwartet und errötete. Bevor sie etwas sagen konnte, fing sie den wütenden Blick der Äbtissin auf und zog sich hastig zurück.
»Möchtet Ihr Ultans Lehren verwerfen …?« drängte Fidelma. »Vielleicht braucht Ihr den Rat Eurer anam-chara , Eurer Seelen-Freundin?«
Da sprang Äbtissin Draigen wütend auf.
»Schwester Síomha war meine anam-chara «, erwiderte sie kurz angebunden. Sie hätte den Streit am liebsten fortgesetzt, schluckte ihren Ärger jedoch hinunter. »Wie Ihr wünscht. Ich werde meine Anklage gegen Berrach widerrufen.«
Auch Fidelma erhob sich.
»Das ist gut so. Es muß vor der versammelten Gemeinschaft geschehen, da auch die Anklage vor der Gemeinschaft erhoben wurde. Erklärt die Anschuldigung für nichtig, leistet öffentlich Abbitte und tut Buße.«
Über Äbtissin Draigens Gesicht huschte ein gehässiger Ausdruck.
»Ich habe bereits gesagt, daß ich das tun werde.«
»Gut. Dann ist jetzt, da sich die Gemeinschaft zum Frühgottesdienst versammelt, genau der richtige Zeitpunkt dafür. Ich werde Schwester Berrach zur Kapelle geleiten, denn sie hat möglicherweise Angst, ihre Zelle zu verlassen. Immerhin wurde ihr Gewalt angedroht – Gewalt«, fügte sie leise hinzu, »in einer heiligen Stätte der Christenheit.«
Mit diesen Worten verließ sie Draigens Gemach.
Vor der Tür hielt sie einen Augenblick inne und atmete tief durch. Zum ersten Mal spürte sie so etwas wie Mitleid mit Adnár: seine Schwester war wirklich eine sonderbare Frau. Ihr blieb keine andere Wahl, als Abt Broce über die Angelegenheit zu unterrichten, denn selbst wenn Draigen in allen anderen Punkten unschuldig war, hatte sie sich doch der Anstiftung zum Mord schuldig gemacht und zu diesem Zweck die jugendliche Begeisterungsfähigkeit einer dritten Person sowie deren Mangel an Wissen und Erfahrung mißbraucht. Das konnte man ihr nicht durchgehen lassen. In der Tat, es lag etwas Abgründiges in Draigens Charakter.
Die Glocke rief, und die Schwestern eilten in die duirthech . In Berrachs Zelle traf Fidelma sowohl die gehbehinderte junge Nonne an als auch Schwester Brónach, die ihr Trost zusprach. Sie berichtete ihnen kurz, was zwischen ihr und der Äbtissin vorgefallen war.
Als Fidelma mit Schwester Berrach, die sich mit Hilfe ihres Steckens und von der besorgten Schwester Brónach gestützt vorwärtsmühte, die Kapelle betrat, war die Gemeinschaft bereits versammelt. Die Äbtissin stand hinter dem Altar, genau hinter dem großen, reich verzierten, goldenen Kreuz, während eine Vorsängerin den lateinischen Lobgesang leitete, den die Gemeinde angestimmt hatte.
Munther Beara beata
fide fundata certa,
spe salutis ornata,
caritate perfecta.
Fidelma fragte sich, ob Äbtissin Draigen diesen Gesang absichtlich ausgewählt hatte. Die Worte waren einfach. »Die gesegnete Gemeinschaft von Beara, gegründet auf festem Glauben, geschmückt mit Hoffnung auf Rettung, vervollkommnet durch Barmherzigkeit.« Die Schwestern sangen, als seien sie felsenfest von ihrer Botschaft überzeugt.
Während Fidelma Schwester Berrach nach vorne geleitete, verloren die Stimmen ihren Gleichklang und erstarben schließlich eine nach der anderen. Köpfe hoben sich, und ängstliche Spannung breitete sich in den Reihen der Andächtigen aus.
Ermutigend drückte Fidelma Berrachs Arm.
Der Gesang verstummte gänzlich, und Äbtissin Draigen verließ majestätisch ihren Platz und trat vor den Altar.
»Meine Kinder, ich stehe hier vor Euch, um Euch um Verzeihung zu bitten, denn ich habe schweres Unrecht auf mich geladen und zugelassen, daß ein junger, unerfahrener Mensch auf meinen Rat hin unrecht handelt.«
Nach diesen einleitenden Worten wurde es plötzlich still. So still, daß selbst der rasselnde Atem der Erkälteten zu hören war.
»Außerdem habe ich einer unserer Schwestern eine schreckliche Ungerechtigkeit zugefügt.«
Die Versammelten begannen allmählich zu begreifen und warfen Schwester Berrach und Fidelma beschämte Blicke zu. Berrach stützte sich auf ihren Stecken und hatte die Augen gesenkt. Schwester Brónach stand hocherhobenen Hauptes da, als sei sie diejenige, an die die Entschuldigung sich richtete. Fidelma hatte ebenfalls den
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