04 - Die Tote im Klosterbrunnen
hinter Schwester Berrach her nach draußen.
Rechtzeitige Heilung für die kranke Menschheit? Fidelma verzog spöttisch den Mund. Für die Krankheit, die in dieser Abtei um sich griff, schien es keine Heilung zu geben. Sie war nicht einmal sicher, um welche Krankheit es sich handelte, außer daß ihre Ursache blanker Haß war. Hier geschahen Dinge, die sie nicht verstand. Es handelte sich nicht um ein einfaches Problem, schon gar nicht um die einfache Frage: Wer hat wen ermordet – und warum?
Zwei Frauen waren gefunden worden, beide durch einen Stich ins Herz getötet, beide anschließend enthauptet, und beide mit einem Kruzifix in der rechten Hand und einem Espenholzstab mit einer Oghaminschrift in der linken. Welche Verbindung bestand zwischen diesen beiden Frauen? Wenn sie das herausfand, konnte sie vielleicht das Motiv herausfinden. Bisher hatte ihre Untersuchung alles in allem kaum etwas Brauchbares enthüllt, was auf das Tatmotiv, geschweige denn auf den oder die Täter hinwies. Alles, was sie in Erfahrung gebracht hatte, war, daß die Gemeinschaft Der Lachs aus den Drei Quellen von einer Frau mit einer äußerst starken Persönlichkeit geleitet wurde, deren Ansichten mehr als fragwürdig waren.
Zum Abschluß des Frühgottesdienstes wurden nun die Laudes gesungen, die Loblieder, die in der Kirche den Anbruch des Tages verkündeten. Die Stimmen der Schwestern erklangen mit seltsamer Inbrunst:
»Ihr Mund soll Gott erheben; / und sie sollen scharfe Schwerter in ihren Händen haben,
daß sie Rache üben unter den Heiden, / Strafe unter den Völkern,
ihre Könige zu binden mit Ketten / und ihre Edlen mit eisernen Fesseln,
daß sie ihnen tun das Recht, / davon geschrieben steht. / Solche Ehre werden alle seine Heiligen haben. Halleluja!«
Fidelma überlief ein Schauer.
Hatten die Worte etwa einen neuen Sinn bekommen, den sie nicht entschlüsseln konnte?
Doch die Laudes bestanden immer aus den Psalmen 148 bis 150, sie wurden jeden Morgen bei Tagesanbruch gesungen, hintereinander, wie ein einziger, langer Psalm.
Die Worte waren immer dieselben. Warum hörte sie heute eine unbestimmte Drohung heraus?
Sie wußte, daß irgend jemand hier seine Possen mit ihr trieb. Doch sie war sich nicht sicher, worüber diese Possen sie eigentlich hinwegtäuschen sollten.
K APITEL 11
Fidelma wollte gerade den Innenhof überqueren, um Schwester Berrach zu folgen, als ein heiseres Husten sie innehalten ließ.
»Mir wurde gesagt, daß Ihr um mein Erscheinen hier heute morgen gebeten habt.«
Sie drehte sich um und starrte in die belustigten blauen Augen von Bruder Febal. Er war von Kopf bis Fuß in einen dicken, wollenen, mit Pelz verbrämten Umhang gehüllt, der auch eine Kapuze hatte, und hielt einen derben cambutta , oder Spazierstock in der Hand.
Fidelma sah ihn einen Augenblick fassungslos an. Seit ihrer Unterredung mit Adnár am gestrigen Nachmittag war so viel geschehen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
»Das habe ich getan«, bestätigte sie eilig. Sie sah sich um und deutete dann auf den Pfad, der hinunter zur Meerenge und zum Anlegesteg der Gemeinschaft führte. Ihr war klar, daß Äbtissin Draigen oder ihre Gefährtinnen Bruder Febal in der Abtei nicht gerade willkommen heißen würden, wenn sie ihn entdeckten. »Kommt, machen wir einen kleinen Spaziergang, dabei können wir reden.«
Bruder Febal musterte sie neugierig mit seinen großen blauen Augen, dann nickte er und schloß sich ihr an. Die Sonne stand nun etwas höher am Himmel, doch es war immer noch ziemlich kalt.
»Worüber möchtet Ihr denn mit mir reden?« begann er in beinahe neckendem Tonfall.
»Ich möchte Euch einige Fragen stellen, Febal.«.
»Adsum!« antworte er großspurig auf Latein. »Zu Diensten!«
»Habt Ihr schon gehört, daß hier in der Abtei eine zweite Tote gefunden wurde?« fragte Fidelma.
»Neuigkeiten verbreiten sich schnell in diesem Land, Schwester Fidelma. In Dún Boí wurde davon gesprochen.«
»Von wem?«
»Ich glaube, ein Diener hat die Neuigkeit mitgebracht«, antwortete er unbestimmt und wechselte sogleich das Thema. »Adnár und der werte Lord Olcán haben mich gebeten, Euch eine Nachricht zu überbringen, Schwester. Sie laden Euch heute abend zu einem Festessen nach Dún Boí ein. Mein Gebieter Torcán schließt sich dieser Einladung ausdrücklich an. Er möchte Euch für den Schrecken entschädigen, den er Euch gestern im Wald eingejagt hat. Adnár hat angeboten, seinen persönlichen Bootsführer zu
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