04 - Die Tote im Klosterbrunnen
ursprüngliche Grund, der Fidelma hierhergeführt hatte, war fast in Vergessenheit geraten. »Habt Ihr das Rätsel inzwischen gelöst?«
Fidelma fühlte sich schuldig, weil sie nach Ross’ Rückkehr und aufgrund seiner Neuigkeiten kaum noch einen Gedanken an das Geheimnis des Leichnams ohne Kopf und an Schwester Síomhas Ermordung verschwendet hatte.
»Noch nicht.« Mit betretener Miene fügte sie hinzu: »In der Abtei ist noch ein weiterer Mord geschehen. Wir fanden die rechtaire , Schwester Síomha, auf die gleiche Weise getötet wie die Unbekannte. Ich glaube jedoch, daß sich der Schleier des Geheimnisses zu lüften beginnt. Es gibt viel Böses in der Abtei.«
»Falls Ihr je in Gefahr geraten solltet …«. Ross zögerte verlegen. »Ihr könnt mich und jeden meiner Männer jederzeit um Hilfe bitten. Vielleicht wäre es besser für Euch, von jetzt an einen Leibwächter bei Euch zu haben.«
»Um das Wild darauf aufmerksam zu machen, daß die Jäger ihm bereits dicht auf den Fersen sind?«
Schwester Fidelma schüttelte den Kopf, legte ihre Hand auf den Arm des besorgten Seemanns und lächelte.
»Wartet mit Odar und den drei Pferden um Mitternacht im Wald und achtet darauf, daß Euch niemand sieht.«
Man sagte Fidelma, daß sie Schwester Brónach in Berrachs Zelle antreffen könne. Sie schritt gerade über den Innenhof auf das Wohnhaus zu, als Brónach mit bedrückter Miene aus dem Eingang trat. Dort zögerte sie und wäre der dálaigh anscheinend lieber aus dem Weg gegangen, doch Fidelma lief auf sie zu.
»Wie geht es Schwester Berrach?«
Brónach zögerte.
»Im Augenblick schläft sie. Sie hat eine anstrengende Nacht und einen unerfreulichen Morgen hinter sich.«
»Das hat sie allerdings«, stimmte Fidelma zu. »Sie kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Euch zur Freundin zu haben. Wollt Ihr mich ein Stück begleiten, Schwester?«
Widerwillig schloß sich Schwester Brónach Fidelma an und schritt langsam neben ihr über den gepflasterten Hof zum Gästehaus hinüber.
»Was wollt Ihr von mir, Schwester?«
»Antworten auf einige Fragen.«
»Ich stehe Euch stets zur Verfügung. Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, Euch für das zu danken, was Ihr für Schwester Berrach getan habt.«
»Warum solltet Ihr mir danken?«
Schwester Brónach machte ein abwehrendes Gesicht.
»Ist es denn falsch, jemandem dafür zu danken, daß er einer Freundin das Leben gerettet hat?«
»Ich habe nur getan, was recht war und was jeder gläubige Christ tun sollte. Obwohl einige der Schwestern hier sich offenbar allzu leicht durch Gefühle davon abbringen lassen.«
»Durch Äbtissin Draigen, meint Ihr?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Nichtsdestotrotz«, fuhr Schwester Brónach im Brustton der Überzeugung fort, »habt Ihr genau das gemeint. Euch ist sicher nicht entgangen, daß alle Schwestern hier sehr jung sind? Schwester Comnat, unsere Bibliothekarin, und ich sind die Ältesten. Sonst ist hier keine einzige, außer der Äbtissin, älter als einundzwanzig.«
»Ja, mir ist aufgefallen, wie jung die Schwestern in dieser Abtei sind«, bestätigte Fidelma. »Das finde ich höchst merkwürdig, denn die Idee einer Gemeinschaft ist es ja gerade, daß die Jungen von der Erfahrung und dem Wissen der Älteren profitieren.«
In Schwester Brónachs Stimme lag ein bitterer Unterton.
»Es gibt einen Grund dafür. Die Äbtissin umgibt sich nicht gerne mit Leuten, die ihre Autorität in Frage stellen könnten. Junge Menschen kann sie manipulieren, aber wir Älteren sind in der Lage, ihre Irrtümer zu erkennen, und wissen häufig weitaus mehr als sie. Sie kann einfach nicht vergessen, daß sie eine arme, ungebildete Bauerntochter war, bevor sie hierherkam.«
»Also mißbilligt Ihr die Äbtissin?«
Schwester Brónach blieb vor dem Eingang zum Gästehaus stehen und blickte sich ängstlich um, als wolle sie sichergehen, daß sie unbeobachtet waren. Dann deutete sie zur Tür.
»Wir gehen besser rein, um zu reden.«
Sie führte Fidelma den Korridor entlang zu einer kleinen Kammer, von wo aus sie ihre Aufgaben als Pförtnerin und Leiterin des Gästehauses erledigte.
»Nehmt Platz, Schwester«, sagte sie und setzte sich auf einen der beiden Holzstühle, die in dem winzigen Raum standen. »Nun, was war noch mal Eure Frage?«
Fidelma ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder.
»Ich habe gefragt, ob Ihr Äbtissin Draigen mißbilligt, weil sie eine so junge, unerfahrene Gemeinschaft um sich versammelt? Zweifellos hat sie
Weitere Kostenlose Bücher