04 - Die Tote im Klosterbrunnen
die Jugend und Unerfahrenheit von Schwester Lerben mißbraucht, um Berrach zu bedrohen. Mißbilligt Ihr Draigens Haltung gegenüber Berrach?«
Schwester Brónach verzog das Gesicht und brachte ihren Widerwillen deutlich zum Ausdruck.
»Jeder vernünftige Mensch würde ein Vorgehen, wie es die Äbtissin vorschlug, verurteilen, auch wenn ich bereit bin einzuräumen, daß es nicht allein Äbtissin Draigens Schuld war.«
»Nicht ihre Schuld?«
»Ich kann mir vorstellen, daß Schwester Lerben auch etwas damit zu tun hat.«
Fidelma war verdutzt.
»Nach meinem Verständnis stand Schwester Lerben völlig unter dem Einfluß von Draigen. Sie ist zu jung und war in diesem Spiel nur eine Marionette. Jemand hat mir erzählt, daß eine enge Beziehung zwischen der Äbtissin und Lerben besteht und daß Lerben – vergebt mir meine Offenheit, Schwester – manchmal das Bett mit der Äbtissin teilt. Dieselbe Person sagte mir, daß Ihr das bestätigen könnt.«
Die sonst so verdrossene Nonne begann zu lachen. Fidelma, die in Brónachs ernstem Gesicht noch nie eine Spur von Fröhlichkeit entdeckt hatte, erlebte nun einen Ausbruch echter Heiterkeit.
»Das weiß doch jeder, daß Schwester Lerben das Bett mit der Äbtissin teilt! Ihr seid schon seit zwei Tagen hier und habt noch nicht mitbekommen, daß Lerben Draigens Tochter ist?«
Fidelma war wie vom Donner gerührt.
»Und ich dachte, Lerben …«, stieß Fidelma überrascht hervor, biß sich dann jedoch auf die Lippen.
Schwester Brónach lächelte belustigt vor sich hin. Ihr trauriges Gesicht wirkte völlig verwandelt, beinahe jung.
»Ihr dachtet, Lerben sei ihre Geliebte? Na, da hat man Euch ja schlimme Geschichten erzählt.«
Fidelma war sichtlich bemüht, die Neuigkeit zu verdauen.
»War Schwester Síomha jemals die Geliebte von Draigen?«
»Nicht daß ich wüßte. Und soweit ich das beurteilen kann, gehört Draigen ohnehin nicht zu den Frauen, die sich für derlei fleischliche Beziehungen interessieren. Äbtissin Draigen ist äußerst launisch, oder besser: unberechenbar. Eine Menschenfeindin, eine Frau, die den Männern mißtraut und ihnen lieber aus dem Weg geht. Sie umgibt sich hier mit jungen Frauen, weil sie ihnen intellektuell überlegen ist, doch das hat nicht zwangsläufig etwas mit sexuellen Beziehungen zu tun.«
Fidelmas Gedanken überschlugen sich. Wenn das stimmte, war das Motiv, das Adnár und Bruder Febal vorgetragen hatten und das durchaus plausibel klang, hinfällig. Das änderte ihre Einschätzung der Lage von Grund auf.
»Ich habe viel Klatsch und Tratsch und viele Vermutungen über Draigen gehört. Wollt Ihr behaupten, daß all diese Geschichten nicht wahr sind?«
»Ich habe wenig Anlaß, die Äbtissin zu lieben, und ich muß gestehen, daß ich mich auf diesem Gebiet überhaupt nicht auskenne. Äbtissin Draigen umgibt sich einfach gern mit jungen Mädchen, weil die ihr Wissen und ihre Autorität nicht in Frage stellen. Einen anderen Grund sehe ich nicht.«
»Ihr sagt, daß sie allen Männern mißtraut und sie haßt, und doch war sie mit Bruder Febal verheiratet.«
»Febal? Eine Ehe, die nicht einmal ein Jahr hielt. Ich glaube, sie hatten einander verdient. In Wahrheit standen sie sich in nichts nach: er mit seiner Frauenfeindlichkeit, sie mit ihrem Männerhaß. Sie verabscheuten sich gegenseitig.«
»Ihr kanntet Febal, als er hier in der Abtei lebte?«
»O ja«, antwortete Brónach mit düsterer Miene. »Ich kannte Febal gut.« Einen kurzen Augenblick blitzte es in ihren Augen. »Ich kannte Febal schon, bevor Draigen in die Abtei kam.«
»Warum haben sie geheiratet, wenn sie sich haßten?«
Schwester Brónach zuckte die Achseln.
»Diese Frage müßt Ihr ihnen selbst stellen.«
»Hat die frühere Mutter Oberin, Äbtissin Marga, diese Beziehung gebilligt?«
»Dies war damals ein gemischtes Kloster, und mehrere verheiratete Paare erzogen ihre Kinder hier zu frommen Christen. Marga hatte altmodische Vorstellungen und ermutigte Eheschließungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Vielleicht war das der Hauptgrund für Draigens Heirat: sie wollte sich Margas Gunst erschmeicheln. Draigen ist eine äußerst berechnende Frau.«
»Ihr lehnt Draigen ab, und doch bleibt Ihr in dieser Abtei. Warum?«
Fidelma suchte in Brónachs Miene nach einer Antwort. Die Glaubensschwester zuckte zusammen, und ein Ausdruck von Schmerz und Befremden schien über ihr Gesicht zu huschen.
»Ich bleibe hier, weil ich hierbleiben muß«, sagte sie
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