04 - Herzenspoker
sich wie ein anderer Mensch
gefühlt, als sie sich im Spiegel angeschaut hatte. Wenn sie nicht in die Oper
ging, dann sah es ... doch keiner. Sie sprach diesen Gedanken laut aus.
»Was
hat es für einen Sinn, Miß Fipps«, sagte sie, »einen enormen Preis für eine
Opernloge zu zahlen und ein wunderbares Kleid zu tragen, wenn keiner das Kleid
sieht und die Loge nicht benutzt wird?«
»Wir
können doch morgen abend gehen«, gab Miß Fipps, die einen zur Weißglut treiben
konnte, zu bedenken.
»Nein,
ich habe das Gefühl, ich muss gehen«, sagte Esther. »Ich muss nach diesem
Skandal wenigstens einmal mit meinem angeblichen Verlobten in der
Öffentlichkeit erscheinen.«
»Wie
Sie wünschen«, sagte Miß Fipps. »Mein eigenes Kleid hat bessere Tage gesehen,
es spielt also keine Rolle, wenn es leidet.«
»Was
das betrifft«, sagte Esther und betrachtete das altmodische Reifrockgewand aus
trüb-violetter Seide, »so habe ich das Gefühl, Sie sollten keine
Hemmungen haben, bei meiner Schneiderin zu bestellen, was Sie wollen.«
»Sie
bezahlen mir schon, ein sehr gutes Gehalt«, sagte Miß Fipps zufrieden. »So eine
Freude. Ich habe noch nie etwas verdient.«
»Wovon
haben Sie denn bisher gelebt?« fragte Esther und merkte wieder einmal, wie
wenig sie über ihre Gesellschafterin wußte.
»Ich
habe ziemlich viele reiche Verwandte«, sagte Miß Fipps. »Normalerweise werde
ich von einem zum anderen weitergereicht.«
»Wie
bedrückend! Bei welchem Verwandten wollten Sie denn in London bleiben?«
Aber
wie schon öfters schien Miß Fipps plötzlich auf unerklärliche Weise an
Schwerhörigkeit zu leiden.
»Wenn
wir gehen«, sagte sie, »sollten wir die Kutsche bestellen. Das heißt, wenn es
Ihnen nichts ausmacht, unmodern zu sein, und Sie die ganze Aufführung sehen
wollen.«
»Warum
ist das unmodern? Warum sollte ich denn sonst in die Oper gehen?«
»Um zu
sehen und gesehen zu werden. Um nachher einen Ball und ein spätes Abendessen zu
besuchen. Um passende Verbindungen für die kommende Saison anzuknüpfen.«
»Dann
möchte ich unmodern sein, Miß Fipps. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich
jetzt gern gehen.«
Miß
Fipps nickte unentschlossen und klingelte, um die Kutsche zu bestellen.
Sie ist
eine merkwürdige Frau, sinnierte Esther. Sie schien dick und unsicher und
schüchtern zu
sein
und hielt sich ziemlich im Hintergrund, aber irgendwie war sie immer da, wenn
sie gebraucht wurde, und mit ihrem praktischen Verstand überprüfte sie
Schneiderrechnungen und wußte, in welchen Läden man die besten Federn und
Stoffe kaufte. Sie war auch sehr nützlich, wenn es um die Dienerschaft ging,
und sah gleich, dass ein Hausmädchen Zahnschmerzen oder ein Lakai persönlichen
Kummer hatte. Bis jetzt hatte sich Esther für eine gute Herrin gehalten, aber
sie hatte Diener nicht als Menschen betrachtet, um die man sich besonders
kümmern musste, wenn sie ihre Beschwernisse und Sorgen nicht ausdrücklich
vorbrachten. Sie fand, dass sie ihre Pflicht tat, wenn sie dafür sorgte, dass
sie anständig gekleidet und gut genährt waren, und wenn sie außerdem noch durch
Erziehung und Bibelstudium gefördert wurden. Dass Diener die Liebe und die
Leidenschaft, den Kummer und den Zahnschmerz genau wie ihre Herrschaften
kannten, war ihr nie in den Sinn gekommen. Sie nahm an, dass Miß Fipps ihre
Einsichten dem Leben als arme Verwandte verdankte, letzten Endes war sie als
eine Art Dienstbote den Launen der reicheren Verwandten ausgeliefert. Damit
hatte Esther recht. Man lebte in einer Epoche, in der man fest daran glaubte,
dass Gott jeden an seinen vorbestimmten Platz gestellt hatte, und dagegen aufzubegehren
war gegen den Willen Gottes. Auf vielfältige Weise bewahrte diese Überzeugung
die Diener davor, ihre Herrschaften zu beneiden, und die Herrschaften, sich
darüber zu sorgen, was in ihren Dienern vorging.
Sie
sollte jedoch noch Ursache haben, sich über die Herkunft ihrer Gesellschafterin
Gedanken zu machen, als ihre Kutsche sich Zoll um Zoll durch den Nebel, der
einem den Atem nahm den Weg zum Covent Garden bahnte. London schwamm verloren
in einem dicken Meer aus Nebel. Draußen vor dem Kutschenfenster war das
schwarze Nichts.
»Du
meine Güte«, sagte Miß Fipps und wischte die Fensterscheibe mit einem Zipfel
ihrer Stola blank, »ich frage mich, ob sich Carlton bei diesem Wetter
hinauswagt.«
»Carlton?«
fragte Esther scharf. »Meinen Sie Lord Guy?«
»Ja,
Miß Jones.«
»Kannten
Sie ihn schon vorher?«
In
diesem
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