04 - Herzenspoker
vorbeizulassen. Einer von ihnen musste
die »Brennende Schande« über sich ergehen lassen, da er mit der Frau eines
anderen Müllmanns im Bett erwischt worden und in einer Schenke abgeurteilt
worden war. Sein Hut war mit einer Krone aus Stechpalmen und zwei, großen
Karotten dekoriert. Er war auf die Schultern von vier Müllmännern gebunden, und
es hatte sich ein Zug gebildet, den der oberste Müllmann anführte, während ein
anderer mit eine Glocke das Vergehen verkündete. Dann kamen die übrigen
Müllmänner mit ihren Pfauentaubenhüten, die alle mit Stechpalme, und einer
brennenden Kerze geschmückt waren. Dahinter ritt der zur Schau gestellte
Missetäter auf den Schultern seiner Kollegen; er war zuvorkommend mit einem Krug Bier
und einer Pfeife versorgt worden. Der Rest des Zuges bestand aus den Frauen und
Töchtern der Müllmänner.
Lizzie
verkroch sich in einem dunklen Hauseingang, nicht aus Furcht vor den
Teilnehmern des Umzugs, sondern weil sie kein Geld bei sich hatte. Die
Müllmänner sammelten nämlich auf beiden Straßenseiten mit Büchsen Geld. Wenn
sie das Gefühl hatten, dass es reichte, ließ sich die ganze
Gesellschaft, einschließlich des Missetäters und des betrogenen Ehemanns, in
einer Schenke nieder, um die ganze Nacht durchzuzechen.
Als das
letzte Licht den Ludgate-Hügel hinabgetanzt war, eilte Lizzie weiter. Der
Nebel wurde dichter und färbte sich langsam grau-gelblich. Das hieß, dass
er bald zu einer atembeklemmenden Erbsensuppe werden würde.
Als
Lizzie am Friedhof der St. Paul's-Kathedrale ankam, wollte sie das
Stelldichein nur noch so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit sie in
die Clarges Street zurückkehren konnte, solange sie den Weg noch finden konnte.
Trotzdem
zögerte sie ein bisschen, da ihre Schüchternheit sie überwältigte, als sie
durch den Nebel eine Reihe von kleinen Werkstätten erblickte, die wie
mittelalterliche Marktbuden an der Friedhofsmauer aufgereiht waren.
Da war
auch die Werkstatt des Flickschusters. Davor saß ein junger Mann. Er sah
durchaus ansprechend aus, mit breiten Schultern, schmalen Hüften und schönen
Beinen. Sein Haar war im Nacken zusammengebunden.
Lizzie
holte tief Atem und wollte weitergehen.
»Lizzie!«
Eine Hand legte sich auf ihren Arm.
Erschrocken
machte sie ihren Arm frei, und als sie aufschaute, begegnete sie Josephs runden
blauen Augen.
»Lass
es sein, Liz«, sagte er.
»Ich
tue, was ich für richtig halte«, sagte Lizzie, berauscht von einem ganz neuen
Gefühl der Macht. Wie schwächlich Joseph jetzt erschien, verglichen mit dem
starken jungen Mann. Joseph hatte seine Livree nicht an. Er trug einen Anzug
aus gewöhnlicher brauner Wolle, ein grobes Baumwollhemd und ein kariertes
Halstuch.
Der
Anblick des ganz gewöhnlichen Joseph - der nicht durch seine schwarz-goldene
Livree aufgewertet war - stärkte Lizzie in ihrem Entschluß.
»Lass
mich in Frieden«, sagte sie. Mit hocherhobenem Kopf ging sie auf die Werkstatt
des Flickschusters zu.
Als sie
näher kam, ging der junge Mann, vor sich hin pfeifend, an der Friedhofsmauer
entlang weg-. Lizzie sah ihn gehen und blieb unentschlossen stehen. Er
war nur ein Passant.
»Lizzie«,
klang Josephs Stimme wieder an ihr Ohr.
»Lass
mich in Frieden, Joseph, bitte«, sagte Lizzie; aber sie klang schon weniger
entschlossen als eben. »Ich bin hierhergekommen, um diesen Mr. Dancer
aufzusuchen, und ich will ihn sehen!«
»Gut, lass
mich, mitkommen, nur um mich zu überzeugen, dass er es ehrlich meint«, schlug
Joseph vor.
Lizzie
schaute sich um. Der Nebel wurde immer dichter. Ein Betrunkener torkelte
vorbei, stolperte und fluchte.
»Also
gut«, sagte sie, »aber du mischst dich nicht ein.«
Zusammen
näherten sie sich der Werkstatt. Ein verhutzelter, kleiner Mann tauchte aus dem
dunklen Inneren auf und schaute sie neugierig an.
»Mr.
Dancer?« fragte Lizzie schüchtern, die dachte, das könnte der Vater sein.
»Keineswegs«,
sagte der Mann. »Ich passe nur auf seine Werkstatt auf. Er kommt gleich zurück.
Sie wollen ihn sprechen?«
»Ja«,
sagte Lizzie.
»Wissen
Sie was, ich will einen Schluck trinken gehen. Passen Sie ein bisschen auf,
dass nichts wegkommt. Ich bin in einer Minute wieder da.«
Ohne
eine Antwort abzuwarten, rannte er in den Nebel hinein.
»Lass
uns gehen, Liz«, wollte Joseph sie überreden.
»Nein«,
sagte Lizzie. Sie war irgendwie überzeugt davon, dass sich Mr. Dancer als so
einer wie der junge Mann, den sie gerade gesehen hatte, herausstellen
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