04 Im Bann der Nacht
Intensität ansahen. »Was siehst du gerade?«
»Dich.« Geschmeidig setzte er sich auf das Bett, und sein Finger strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du hast dich seit jener Zeit in London sehr verändert.«
»Wie verändert?«
»Du besitzt mehr …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Selbstvertrauen.«
Anna lächelte stolz. Sie hatte sich wirklich verändert. Oder vielleicht hatte sie sich einfach nur zu dem entwickelt, wozu sie bestimmt war? In jedem Fall hatte es mehrere Jahrzehnte gedauert, und eine Menge Arbeit war nötig gewesen, um das zu erreichen.
»Ich habe gelernt, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann«, antwortete sie voller Genugtuung. »Das ist eine wichtige Lektion für jede Frau.«
Seine Miene versteinerte sich. »Ich wünschte trotzdem, du seiest nicht gezwungen gewesen, sie zu lernen. Wenn es mir erlaubt gewesen wäre, bei dir zu bleiben …«
Hastig bedeutete sie ihm zu schweigen. Sie wollte nicht
daran zurückdenken, wie viele Jahre sie dem Versuch geopfert hatte, diesen Mann zu ihrem Feind zu machen. Es war lächerlich gewesen, sogar kindisch, und sie konnte nicht leugnen, dass sie Schuldgefühle hatte, so selbstsüchtig gewesen zu sein, dass sie nie darüber nachgedacht hatte, er könne vielleicht gegen seine eigenen Dämonen kämpfen. Nun ja, wenigstens nahm sie an, dass die Orakel auch Dämonen waren.
Darum lenkte sie das Gespräch auf einige weniger brisante Fragen, die im Laufe der Jahre an ihr genagt hatten. »Weißt du, du hast mir nie erzählt, warum du damals in London warst.«
Er hob die Augenbrauen. Dann verlagerte er sein Gewicht, sodass er sie wieder in seine Arme ziehen und seine Wange auf ihren Scheitel legen konnte. »Viper bat mich, ihm in England Beistand zu leisten. Zu jener Zeit wurde Dante von einem Hexenzirkel gefangen gehalten, und er hoffte, ich könne ihm dabei helfen, eine Methode zu finden, ihn von seinen Ketten zu befreien.«
»Das ist ja schrecklich!« Anna fragte sich einen Moment lang, warum wohl eine Hexe einen Vampir gefangen hielt. Es wirkte ein bisschen so, als würde man einen Tiger am Schwanz festhalten. Keine besonders gute Idee. »Und? Hast du ihm geholfen?«
Cezar schnitt eine Grimasse. »Nein, alles, was geschah, war, dass ich selbst zum Gefangenen wurde.«
»Von den Orakeln?«
Seine Lippen streiften ihr Haar. »Und von dir.«
Ihr Herz machte einen angenehmen Satz. Wussten alle Vampire so genau, was sie sagen mussten, um einer Frau das Herz schneller klopfen zu lassen?
»Was hast du gemacht, bevor du nach London gekommen
bist?«, fragte sie. Sie wusste, dass es Jahre oder vielleicht sogar Jahrhunderte dauern konnte, bis ihre ungeheure Neugierde endlich befriedigt war.
»Ich gehörte zum spanischen Hof. Gelegentlich finde ich es durchaus interessant, mich mit Politik und royalen Intrigen zu beschäftigen.«
Sein Ton war lässig, aber Anna war plötzlich irritiert. Verdammt, sie hatte nie daran gedacht, wie einfach es wohl für Vampire war, den Lauf der menschlichen Welt zu verändern. Wie oft hatten sie … Nein, darüber wollte sie nicht nachdenken. Nicht jetzt. »Also bist du wirklich ein Conde?«, erkundigte sie sich stattdessen.
»Dieser Titel wurde mir vor einigen Jahrhunderten verliehen, da ich dem König einen kleinen Gefallen getan hatte.«
Anna rümpfte die Nase. Sie vermutete, dass dieser kleine Gefallen zu den diversen anderen Dingen gehörte, die sie gar nicht so genau wissen wollte. »War das nicht schwierig, weil du in der ganzen Zeit nicht gealtert bist?«
»Ich blieb selten mehr als einige Jahre am Hof, und wenn ich dann zurückkehrte, war es einfach, andere davon zu überzeugen, dass ich ein Sohn des vorigen Conde sei.«
Das klang irgendwie zu einfach. »Du hast die Gedanken der Leute manipuliert, nicht wahr?«
»Wenn es notwendig war.«
Hätte sie ein normales Leben gelebt, hätte sie sich durch die Skrupellosigkeit, mit der er seine Kräfte einsetzte, vielleicht gekränkt gefühlt. Aber die Jahre, in denen sie selbst gezwungen gewesen war, sich zu verstecken und zu lügen, um sich zu schützen, hatten ihr bewusst gemacht, wie schwierig es für Unsterbliche war, in einer Welt zu leben, die von Sterblichen beherrscht wurde.
»Was hast du gemacht, wenn du nicht am Hof warst?«
»Ich habe Zeit mit diversen Vampiren verbracht, und gelegentlich wurde ich zum Kampf zwischen verschiedenen Clans gerufen, aber normalerweise zog ich mich in mein Versteck in den Bergen zurück, um die Bücher und
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