04 Im Bann der Nacht
Mitgefühl überkam sie. Sie wusste, wie es war, nicht dazuzugehören. Und zwar zu niemandem. »Ja«, erklärte sie leise. »Das ist bei Menschen auch so.«
»Es ist nicht angenehm, allein zu sein.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Aber ich habe Shay gefunden, die mich in ihre Familie aufgenommen hat. Vielleicht bietet Cezar dir ebenfalls einen Platz an.«
Anna hielt den Atem an. Sie durfte sich selbst nicht erlauben, an eine Ewigkeit mit Cezar zu denken. Oder sich vorzustellen, von Personen umgeben zu sein, die sie als Familienmitglied ansahen. Nicht, nachdem sie so viele Jahre damit verbracht hatte zu akzeptieren, dass sie immer allein sein würde. Hoffnung war das Gefährlichste überhaupt.
»Levet …« Anna versteifte sich abrupt, und in ihrem Geist schrillten schon die Alarmglocken, als sie den unverkennbaren Geruch von Äpfeln wahrnahm. »Riechst du das auch?«
Levet nickte nervös. » Oui . Elfen.«
KAPITEL 16
A nna kniff die Augen fest zusammen und betete, dass der Geruch einfach wieder verschwand. Sie hatte die Nase voll von Elfen.
Natürlich verschwand er nicht. Im Gegenteil: Bald hatte er sich ausgebreitet und erfüllte den ganzen Stall. Warum sollten sie auch einmal ein Quäntchen Glück haben?
Beim Klang von Schritten zwang sich Anna, die Augen wieder zu öffnen, und begegnete Levets besorgtem Blick. Widerwillig streckte sie sich auf den schmutzigen Brettern aus und fing an, auf den Rand des Heubodens zuzurobben.
»Es hat keinen Zweck, sich zu verstecken, Anna Randal!«, rief eine erstaunlich sanfte Frauenstimme. »Ich weiß, dass Sie hier sind.«
Anna spähte über den Rand und sog scharf die Luft ein. An die Stelle ihrer Angst trat pure Fassungslosigkeit, als sie die dunkelhaarige Frau sah, die dort unten mitten im Stall stand.
Sie kannte diese makellose blasse Haut und die dunklen Augen. Und ihren Geruch von Äpfeln. »O mein Gott«, stieß sie am ganzen Körper zitternd hervor. »Sybil? Aber Sie sind doch …«
»Tot?«, spottete die andere Frau und griff mit ihrer manikürten Hand in ihr perfekt gestyltes Haar.
Anna blinzelte. Und blinzelte dann noch einmal. Die Frau sah nicht so aus, als ob sie gerade eben aus ihrem Grab gekrabbelt sei. Es war kein einziges Körnchen Schmutz auf ihrer gebügelten Khakihose und ihrer Bluse zu erkennen. Das musste ein Trick sein.
Das raue Lachen der Frau hallte durch den Stall. »Fürchten Sie, dass Sybil aus dem Grab zurückgekehrt ist? Dass sie vielleicht beabsichtigt, Sie heimzusuchen, weil Sie sie getötet haben?«
»Ich habe sie nicht getötet.«
In den dunklen Augen blitzte purer Hass auf. »Oh, vielleicht hat Morgana den tödlichen Schlag ausgeführt, aber Ihretwegen war sie in dieser Zelle eingesperrt und nicht imstande, sich zu verteidigen. Sie sind für ihren Tod verantwortlich! Nun ist die Zeit gekommen, dass Sie dafür bezahlen!«
Gefangen in dem Gefühl, dass all das nicht wirklich passierte, blieb Anna wie angewurzelt liegen, anstatt um ihr Leben zu laufen. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Clara, Sybils Schwester.« Die Lippen der Frau kräuselten sich, als in Annas Augen Verstehen aufblitzte.
Ein Zwilling. Natürlich.
»Sie rief nach mir, als sie starb. Sie flehte mich an, Rache an den Verantwortlichen zu üben. Und genau das werde ich auch tun.«
Anna drehte sich der Magen um, als sie sich erinnerte, wie Sybil so mausetot auf dem Feldbett gelegen hatte. Sie fühlte sich selbst schrecklich, weil die Elfe gestorben war. Aber nicht schrecklich genug, um sich dafür töten zu lassen.
Mit einiger Mühe kämpfte sie sich auf die Knie und starrte zu der Frau hinunter. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Das habe ich Morgana zu verdanken.«
»Sie weiß, dass ich hier bin?«
»Sie kennt nicht den genauen Ort, obwohl sie weiß, dass es Ihnen gelungen ist, aus ihrem Portal irgendwohin zwischen ihrem verrottenden Bauernhaus und Chicago zu fliehen. Sie hat verlangt, dass ihre treuen Untertanen nach Ihnen suchen sollen, aber im Gegensatz zu den restlichen Elfen besaß ich eine Geheimwaffe.«
Geheimwaffe? Was war sie denn, das Pentagon? »Und was für eine?«, fragte Anna nach.
»Ich habe Sie schon einmal in einem Gerichtssaal in L.A. gesehen, als ich Sybil besucht habe. Ich werde nie Ihr Gesicht vergessen … oder Ihren Geruch«, antwortete Clara mit einem überheblichen Gesichtsausdruck. »Ich wusste, dass ich Sie finden würde, wenn ich auf Ihre Fährte stoßen würde. Natürlich habe ich viel zu viel Zeit verloren, indem ich mit meiner
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