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04 - Mein ist die Rache

04 - Mein ist die Rache

Titel: 04 - Mein ist die Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Schokolade in den Mund, wischte sich die Finger an ihrem weißen Kittel ab und zog unter einem Usambaraveilchen, das allem Anschein nach seit Wochen nicht mehr gegossen worden war, einen Hefter heraus.
    »Wochenlang sitze ich hier und drehe Däumchen, und dann werden mir innerhalb von weniger als achtundvierzig Stunden gleich zwei Leichen beschert.« Sie klappte den Hefter auf, las einen Moment und schlug ihn wieder zu. Sie griff nach einem Schädel, der von einem der Bücherregale herabgrinste, und zog eine Heftklammer aus einer Augenhöhle. Er hatte offensichtlich schon früher zu Demonstrationen herhalten müssen, denn er trug überall schwarze Kugelschreibermarkierungen, und irgendwann einmal war ein großes rotes X direkt auf die Kranznaht aufgemalt worden.
    »Zwei Schläge auf den Kopf. Der schwere traf hier am Scheitelbein. Eine Fraktur war die Folge.«
    »Und die Waffe?«
    »Ich würde nicht von einer Waffe sprechen. Er stürzte auf irgend etwas.«
    »Es ist nicht möglich, daß er einen Schlag bekam?«
    Sie schüttelte den Kopf und wies auf den Schädel. »Sehen Sie, die Fraktur ist etwa hier. Er war nicht übermäßig groß - zwischen einssiebzig und einszweiundsiebzig -, aber er hätte sitzen müssen, wenn jemand ihn an dieser Stelle mit solcher Kraft hätte treffen wollen, daß die Verletzung zum Tod führte.«
    »Kann sich nicht jemand von hinten an ihn herangeschlichen haben?«
    »Ausgeschlossen. Der Schlag erfolgte nicht von oben. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte der Täter so stehen müssen, daß Cambrey ihn aus dem Augenwinkel wahrgenommen hätte. Er hätte dann zweifellos versucht, den Schlag irgendwie abzufangen, und wir hätten an seinem Körper entsprechende Spuren gefunden. Quetschungen oder Schürfungen. Aber es war nichts dergleichen feststellbar.«
    »Der Killer war vielleicht zu schnell für ihn.«
    Sie drehte den Schädel. »Das ist denkbar, aber die zweite Verletzung wäre damit nicht erklärt. Eine weitere Fraktur, weniger schwer, auf der rechten Stirnseite. Wenn Ihr Szenario stimmte, hätte der Mörder ihn erst auf den Hinterkopf geschlagen, ihn dann gebeten, sich freundlicherweise umzudrehen, und ihm den zweiten Schlag von vorn verpaßt.«
    »Sprechen wir dann also von einem Unfall? War es so, daß Cambrey stolperte und stürzte und später von einer Person, die zufällig ins Haus kam und ihn fand, aus Rache oder Schadenfreude kastriert wurde?«
    »Kaum.« Sie stellte den Schädel wieder auf seinen Platz und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Das Licht der Deckenbeleuchtung funkelte in den Gläsern ihrer Brille.
    »Ich stelle mir die Szene folgendermaßen vor: Cambrey steht. Er führt ein Gespräch mit dem Mörder. Es entwickelt sich ein Streit daraus. Er bekommt einen ungeheuer harten Schlag aufs Kinn - wir haben am Unterkiefer schwere Blutergüsse festgestellt, die einzigen von Bedeutung übrigens am ganzen Körper. Er taumelt nach rückwärts, stürzt und schlägt mit dem Kopf gegen einen Gegenstand, der sich etwa einen Meter dreißig über dem Boden befindet.«
    St. James stellte sich das Wohnzimmer in Gull Cottage vor. Er wußte, daß Alice Waters selbst dort gewesen war. Sie mußte noch in der Nacht am Ort eine erste Untersuchung des Toten vorgenommen haben. Aber auch wenn man sich noch so fest vornimmt, sich eine Meinung erst nach Prüfung des Autopsiebefunds zu bilden, macht man sich unweigerlich schon beim ersten Blick auf den Toten sein Bild. Und so war es gewiß auch bei ihr gewesen.
    »Der Kaminsims?«
    Sie nickte. »Die Fallgeschwindigkeit wird durch Cambreys Gewicht beschleunigt. Das Resultat ist die erste Fraktur. Vom Sims rutscht er ab und stürzt tiefer, diesmal jedoch leicht seitlich. Er schlägt mit der rechten Stirnseite auf einen weiteren Gegenstand.«
    »Die Feuerstelle?«
    »Höchstwahrscheinlich. Diese zweite Fraktur ist nicht so schwer. Aber das ist nebensächlich. Er starb innerhalb von Augenblicken an der ersten Verletzung. Massive Gehirnblutungen. Er hätte nicht gerettet werden können.«
    »Aber verstümmelt wurde er erst nach Eintritt des Todes«, meinte St. James nachdenklich. »Es floß kaum Blut.«
    »Trotzdem übel genug«, bemerkte Alice Waters.
    St. James versuchte sich den Ablauf vorzustellen, wie Alice Waters ihn gezeichnet hatte. Das Gespräch, der Streit, der sich daraus entwickelte, der Ärger, der sich zu Wut steigerte, der Schlag. »Wie lange brauchte der Täter Ihrer Meinung nach, um Cambrey diese Verstümmelung

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