04 - Mein ist die Rache
beizubringen? Wenn er in blinder Raserei in die Küche lief, dort ein Messer nahm, vielleicht sogar schon ein Messer mithatte ...«
»Von blinder Raserei kann keine Rede sein. Verlassen Sie sich darauf. Zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, als die Leiche verstümmelt wurde.« Sie bemerkte seine Verwirrung und sagte, seinen Fragen zuvorkommend: »In blinder Raserei stechen die Leute wild drauf los. Sie kennen das doch. Fünfundsechzig Messerstiche. Das erleben wir dauernd. Aber in diesem Fall waren es nur zwei schnelle Schnitte. Als hätte der Mörder nichts anderes im Sinn gehabt, als an Cambreys Leiche ein Exempel zu statuieren.«
»Und die Waffe?«
Sie schielte nach der Pralinenschachtel und schob sie dann mit einem Seufzer weg. »Da kommt von einem Fleischermesser bis zu einer guten Schere so ziemlich alles in Frage.« »Aber bis jetzt haben Sie nichts gefunden?«
»Die Spurensicherung arbeitet noch daran. Mit viel Phantasie, muß ich sagen. Sie untersuchen alles von den Küchenmessern bis zu den Sicherheitsnadeln der Babywindeln. Sie nehmen das ganze Dorf auseinander, von den Mülltonnen bis zu den Blumenbeeten. Reine Zeitverschwendung, wenn Sie mich fragen.«
»Wieso?«
Sie wies mit dem Daumen über die Schulter nach rückwärts, als säße sie mitten im Dorf und nicht Kilometer entfernt in Penzance. »Wir haben die Hügel hinter uns.« Der Daumen schoß nach vorn. »Und das Meer vor uns. Die Küste ist von Tausenden kleinen Buchten zerklüftet. Wir haben stillgelegte Gruben. Wir haben einen Haufen voller Fischerboote. Kurz gesagt, es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ein Messer verschwinden zu lassen.«
»Es könnte also sein, daß der Mörder für dieses Stück Arbeit gerüstet kam?«
»Kann sein, kann aber auch nicht sein. Es ist unmöglich zu sagen.«
»Aber gefesselt hatte man Cambrey nicht?«
»Der Spurensicherung zufolge weist nichts darauf hin. Keine Hanf- oder Nylonfasern, nichts dergleichen. Er war in guter körperlicher Verfassung. Was die zweite Sache angeht - diese Geschichte in Howenstow heute morgen -, so steht die auf einem ganz anderen Blatt.«
»Drogen?« fragte St. James.
Sie war augenblicklich interessiert. »Das kann ich nicht sagen. Wir haben erst die Voruntersuchungen gemacht. Gibt es ...«
»Kokain.«
Sie machte sich eine kurze Notiz. »Das überrascht mich nicht. Was die Leute heutzutage ihrem Körper um des Kitzels willen alles zumuten - lauter Idioten.« Sie versenkte sich, wie es schien, einen Moment lang in düstere Betrachtungen über den Drogenmißbrauch in England. Dann sah sie auf und sagte: »Wir haben einen Alkoholtest gemacht. Er war betrunken.«
»Noch reaktionsfähig?«
»In eingeschränktem Maß, ja. Es reichte, um da rauszumarschieren und abzustürzen. Vier gebrochene Wirbel. Das Rückenmark war durchtrennt.« Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Ohne die Brille sah sie verletzlich aus und irgendwie nackt.»Hätte er es überlebt, so wäre er gelähmt gewesen. Es ist die Frage, ob er mit dem Tod nicht besser dran war.« Unwillkürlich glitt ihr Blick zu St. James' krankem Bein. Sie lehnte sich ein wenig in ihrem Sessel zurück. »Verzeihen Sie, das tut mir leid. Ich bin überarbeitet.«
Lieber tot als verkrüppelt. Es war immer die gleiche Frage, und St. James hatte sie sich in den Jahren seit seinem Unfall oft genug gestellt. Er überging die Entschuldigung.
»Ist er gestürzt? Oder wurde er gestoßen?«
»Wir untersuchen natürlich Körper und Kleidung auf Spuren eines Kampfes. Aber soweit ich im Moment feststellen kann, war es ein Sturz. Er war betrunken. Er befand sich am höchsten Punkt einer gefährlichen Felswand. Der Tod ist gegen ein Uhr morgens eingetreten. Es war also finster. Und der Himmel war gestern nacht bewölkt. Ich würde sagen, wir können von einem Unglücksfall ausgehen.«
Wie erleichtert Lynley sein würde, das zu hören, dachte St. James. Und doch spürte er ein Widerstreben in sich, Alice Waters' Meinung zu akzeptieren. Gewiß, die äußeren Umstände sprachen für einen Unfall. Aber wie auch immer Brooke zu Tode gekommen sein mochte, die Tatsache, daß er mitten in der Nacht oben auf der Felswand gewesen war, ließ auf ein heimliches Stelldichein schließen.
Ein orkanartiger Sturm heulte um das Haus und peitschte den Regen in wütenden Böen gegen die Fenster des Speisezimmers. Die Vorhänge waren zugezogen, die Geräusche dadurch etwas gedämpft, aber gelegentlich rüttelte der Sturm mit solcher Gewalt an
Weitere Kostenlose Bücher