Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
04 - Spuren der Vergangenheit

04 - Spuren der Vergangenheit

Titel: 04 - Spuren der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Weinland
Vom Netzwerk:
vor dem Handgelenk.
    Dann zog er den Arm zurück und die Hand tauchte wieder auf. Das Herz war daraus verschwunden.
    Zauberei! Das dachten wohl alle, die Zeuge des unfassbaren Geschehens wurden. Selbst Ts’onot, der den Effekt gestern schon beobachtet hatte, war überzeugt davon, dass nur die Götter selbst zu so etwas fähig waren.
    Während noch alle entsetzt starrten, trat Oxlaj von dem Flirren weg – und es erlosch so plötzlich, wie es entstanden war. Ts’onot sah, wie sein Lehrmeister mit triumphierender Miene auf den Herrscher und seine Gefolgschaft zu kam, noch immer die Klinge in der Rechten – und den Armreif am linken Handgelenk. Der Reif, der irgendwie mit dieser Magie zusammenhängen musste.
    Dann stand Oxlaj auch schon vor Ah Ahaual, und niemand hinderte ihn, mit erhobener Stimme zu sprechen.
    »Die Götter haben mich, Oxlaj, auserwählt!«, rief er, und in der Stille klang seine Stimme doppelt laut. »Ihr alle habt gesehen, wie ich das Opfer mit dem Dolch vollführte, den sie selbst mir gegeben haben, und wie ich ihnen das Herz über die Grenzen des Jenseits hinweg dargebracht habe!«
    Das war genug! Auf der Stufe hinter Ts’onot erhob sich sein Vater, der Herrscher, zu voller Größe. Und so, wie niemand je zuvor den Opferpriester erlebt hatte, so erlebte Oxlaj Ah Ahaual jetzt in einer nie gekannten Wut.
    »Frevel!«, brüllte der Kazike den Priester an. »Du beleidigst die Götter mit deiner Anmaßung!«
    Oxlaj verzog sein vom Lebenssaft des Tutul Xiu besudeltes Gesicht zu einer blutigen Grimasse. »Du solltest mir mehr Respekt zollen«, erstickten seine nächsten Worte auch noch den letzten Hauch von Verständnis, den Ts’onot seinem Lehrer nach all dem Geschehenen entgegenbrachte. »Ich stehe unter dem Schutz der Götter! Wer Augen hat, konnte es sehen. Ich gebiete über eine Macht, die selbst die deine überstrahlt … Erhabener !« Das letzte Wort klang wie eine Beleidigung, und in Oxlajs Augen glitzerte etwas, das nur Wahnsinn sein konnte, nackter, unkontrollierbarer Wahnsinn.
    Er merkte nicht, wie er den Bogen überspannte, wie er alle Brücken hinter sich abbrach und es selbst unmöglich machte, den Hals je wieder aus der sich zusammenziehenden Schlinge zu ziehen.
    Ah Ahaual galt als strenger, aber gerechter Herrscher. Ein offener Affront wie dieser war für ihn unverzeihlich. Und das ließ er Oxlaj im Moment von dessen vermeintlich größtem Triumph spüren.
    Selbst Ts’onot bemerkte kaum das Zeichen, das er den Kriegern seiner Leibwache gab. Doch einmal gegeben, war die Konsequenz unaufhaltsam.
    Wenige Herzschläge später blickte Oxlaj an sich hinab. Seine Verwunderung ähnelte der des Kriegsgefangenen, als ihm den Brustkorb aufgeschnitten wurde.
    Fast gleichzeitig waren mehrere gefiederte Pfeile in die Brust des Priesters eingeschlagen.
    Trotzdem schaffte Oxlaj es, sich noch für die Dauer eines ungläubigen Blicks auf den Beinen zu halten.
    Als er dann aber auf den Steinboden stürzte, war es für alle – selbst für Ts’onot – wie eine Erlösung.
    ***
    Der silber- und jadefarbene Reif löste sich von Oxlajs Handgelenk und landete polternd auf dem Stein neben dem Leichnam des Priesters. Die drei Teilringe hatten sich an einer Stelle ineinandergeschoben und sich vom Gelenk gelöst.
    »War es so, als du das Wesen im Wald erschlagen hast?«, wandte sich Ah Ahaual an seinen einzigen Sohn.
    Ts’onot nickte mit Trauer im Herzen. In gewisser Weise hatte Oxlaj ihm mehr bedeutet als sein Vater. Nun war er tot.
    Die Götter mögen ihm gnädig sein. Er hat es verdient, Einlass ins Paradies zu erhalten und nicht in die Xibalbá verstoßen zu werden, dachte er. Laut sagte er: »Ja.« Rau, fast heiser klang seine Stimme, als hätte er tagelang nicht mehr gesprochen.
    »Und der Priester nahm ihn und legte ihn sich an?«
    Hatte es jetzt noch Sinn, bei der Wahrheit zu bleiben und seinen Vater zu verärgern? Wohl kaum. »Er nahm den Reif und ließ ihn auf seinen Arm niederfallen«, antwortete Ts’onot vorsichtig.
    Ah Ahaual nickte zufrieden. »Dann haben ihn die Götter für seinen Hochmut verflucht und mit Wahnsinn gestraft. Oxlaj war nicht würdig, den Reif zu tragen.«
    Ein banger Verdacht erwachte in Ts’onot. »Und du denkst … du bist seiner würdig?«
    Zu seiner Erleichterung antwortete Ah Ahaual: »Ich will nicht denselben Fehler begehen und anmaßend den Göttern gegenüber sein. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass der Reif an einen sicheren Ort gebracht und dort verwahrt

Weitere Kostenlose Bücher