04 - Spuren der Vergangenheit
unter so unwürdigen Umständen aus ihrer Mitte geschieden war.
Die Jahre nach Oxlajs Tod waren gute Jahre gewesen für Ah Kin Pech, von wo aus Ah Ahaual als Kazike über Stadt und Umgebung herrschte. Fette Ernten sicherten die Zufriedenheit der Bevölkerung, das kulturelle Leben gedieh aufs Prächtigste … und aus dem Jüngling Ts’onot wurde der Mann Ts’onot, der es zu seinem Lebensinhalt erklärt hatte, ein Chilam, ein Prophet zu werden. Der bedeutendste, den das Reich je hatte.
Ah Ahaual hatte die Entwicklung nach Oxlajs Tod lange kritisch verfolgt. Offenbar fürchtete er, sein Sohn könne von dem verrückt gewordenen Opferpriester verdorben statt unterrichtet und ausgebildet worden sein.
Inzwischen aber, so gewann Ts’onot mehr und mehr den Eindruck, existierten diese Vorbehalte nicht mehr. Immer häufiger suchte sein Vater Rat für seine politischen Entscheidungen bei ihm, und nichts hätte seine Achtung Ts’onot gegenüber klarer zum Ausdruck bringen können.
Ts’onot vermochte sich mittlerweile gezielt in den Lomob -Zustand zu versetzen, in dem ihm zukunftsweisende Einsichten zuflossen, die er stets an diejenigen weitergab, die es betraf. Erstaunlicherweise versagte seine Gabe aber auf ganzer Linie, sobald er etwas über seine eigene künftige Rolle im Reich erfahren wollte.
Nun, mit seinen dreiundzwanzig Jahren, verkörperte er einen stolz daherschreitenden, hochgewachsenen Mann mit einem fein geschnittenen Gesicht, in dem die ausdrucksstarke Nase sofort auffiel. Angenehm auffiel, wie Ts’onots Mutter Came nicht müde wurde zu versichern. Sie trat selten öffentlich in Erscheinung und hatte sich zeitlebens auch wenig in die Erziehung ihres Sohnes eingemischt. Dennoch bemerkte Ts’onot auch bei ihr wachsenden Stolz auf den Chilam , dessen Prophezeiungen inzwischen allseits Achtung fanden.
Ts’onot merkte, wie wichtig es ihm war, von den Menschen, die seinen Alltag bestimmten, respektiert zu werden.
Dennoch überraschte es ihn jedes Mal aufs Neue, wenn sein Vater unangemeldet durch die Tür hereinkam und ihn begrüßte, als würden keine Blutsbande sie verbinden, sondern lediglich der Umstand, dass Ah Ahaual große Stücke auf seinen Berater hielt.
»Was führt Euch zu mir?«, fragte Ts’onot nach einem kurzen Austausch von Höflichkeitsfloskeln. »Kann ich Euch mit etwas dienen?« Er hatte sich angewöhnt, den Herrscher des Reiches so anzusprechen, wie es dessen Status gebührte.
Und vielleicht hält ihn gerade das davon ab, sich auch dir mehr wie seinem leiblichen Sohn gegenüber zu verhalten, du Narr! Er ignorierte die kritische Einflüsterung seines Unterbewusstseins.
»Nein«, sagte Ah Ahaual. »Deshalb bin ich nicht gekommen.«
»Nein?«
Ah Ahaual schüttelte das goldgekrönte Haupt. Die Spitzen der langen glatten Haare berührten seine Schultern wie dunkles Geschmeide. Unerwartet streckte er die Hand nach Ts’onot aus. So lange, bis der Chilam gar nicht mehr anders konnte, als danach zu greifen.
Ein Sturm der Gefühle durchjagte ihn. Mühsam schaffte er es, die Fassung zu behalten.
»Wohin führt Ihr mich?«, fand Ts’onot seine Sprache wieder, während Ah Ahaual ihn durch die dämmrig kühlen Räume des Palasts leitete.
»Du wirst es gleich sehen.«
Hier und da begegneten sie Bediensteten und Leibgardisten, und Ts’onot bildete sich gewiss nicht nur ein, dass sie dem Vater-Sohn-Gespann verstohlene Blicke zuwarfen, als es an ihnen vorbeikam. Selten – nie! – hatten sie Vater und Sohn in solch trauter Eintracht gesehen.
Dann blieb Ah Ahaual unvermittelt vor einer mit Gold beschlagenen Tür stehen. Zwei Wächter rechts und links verzogen keine Miene, als der Herrscher eine brennende Fackel aus einer Wandhaltung nahm, die Tür öffnete und ohne Zögern in den fensterlosen Raum trat, Ts’onot unmittelbar neben sich.
Hinter ihnen schloss Ah Ahaual die Tür wieder, während Ts’onots Augen sich an die von zuckendem Flammenschein bestimmten Lichtverhältnisse gewöhnten. Der Raum war leer – auf den ersten flüchtigen Blick. Dann aber bemerkte Ts’onot einen altarartigen Block an der gegenüberliegenden Wandseite, auf den Ah Ahaual auch schon zustrebte.
Im Näherkommen erkannte Ts’onot die beiden Gegenstände auf dem Stein, die er zum letzten Mal nach Oxlajs spektakulärem finalen Auftritt auf der Pyramide zu Gesicht bekommen hatte: Armreif und Klinge.
Er hatte nie danach gefragt, wohin sein Vater die beiden absonderlichen Dinge hatte bringen lassen. Nun sah er
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