04 - Spuren der Vergangenheit
Gerechten bei seinen Untertanen.
Er wollte nicht geliebt werden. Respekt war ihm wichtiger. In der Familie wie in Reichsangelegenheiten.
Auf dem Stuhl sitzend, auf dem er sonst die Bittsteller empfing, erwartete er dösend Ts’onots Ankunft und glitt immer wieder in einen Halbschlaf, in dem er von wirren Träumen heimgesucht wurde.
Eine Bewegung, aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen, ließ ihn aufschrecken. Den Wächtern draußen vor der Tür hatte er aufgetragen, niemanden außer seinem Sohn einzulassen. Und so war für ihn klar, dass kein anderer als Ts’onot erschienen war. Er setzte sich gerade und wandte den Blick …
… und die Erkenntnis, einem Irrtum erlegen zu sein, jagte einen Adrenalinstoß von ungeahnter Wucht durch seine Blutbahn. Von einem Moment zum anderen war er hellwach und stemmte sich aus seinem Sitz.
Er holte Luft, um Alarm zu schlagen – doch die Stimme, die ihm zuvorkam, war einschmeichelnd und bestimmend zugleich und hinderte ihn daran, den Ruf auszustoßen. Sie passte zu dem Erscheinungsbild eines Mannes, der unmöglich aus dieser Welt stammen konnte, der aber auch keine Ähnlichkeit mit dem Wesen hatte, dem Ts’onot und Oxlaj vor Jahren begegnet waren.
Die Gestalt schien aus strahlendem Weiß zu bestehen, das bis in den hintersten Winkel von Ah Ahauals Kopf vordrang.
»Hab keine Furcht«, sagte der Mann aus Licht. »Ich halte große Stücke auf dich und dein Volk – deshalb habe ich euch auserwählt, mir einen Dienst zu erweisen, der euch unsterblich machen wird.«
Ts’onot wusste nicht, weshalb sein Vater ihn in den Ratssaal bestellt hatte. Vielleicht wurde er ungeduldig, was die Fortschritte bei der Erforschung der Zauberobjekte anging. Und das, obwohl er ihn ausdrücklich aufgefordert hatte, mit Bedacht an die Aufgabe zu gehen.
Genau das hatte der Chilam getan. Er widmete sich jeden Tag nur kurze Zeit den Gegenständen und versuchte dabei, einen spirituellen Zugang zu ihnen zu finden. Er wollte seine Gabe dazu ermutigen, sich selbst zu Wort zu melden.
Bislang ohne Erfolg – aber die wenigen Tage, die sich die Objekte in Ts’onots Obhut befanden, waren kein Maßstab. Überstürztes Vorgehen hatte schon Oxlaj in eine ausweglose Lage gebracht. Ts’onot wollte ein ähnliches Schicksal unter allen Umständen vermeiden, auch wenn er, speziell was den Armreif betraf, noch keine Ahnung hatte, wie er etwas über ihn herausfinden sollte, wenn er ihn nicht anlegte.
Er näherte sich dem Palastraum, in dem sein Vater auf ihn wartete. Die Wachen wussten Bescheid, gaben den Zugang frei. Doch noch bevor Ts’onot die Tür öffnen konnte, zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Er sank auf die Knie und verlor jeden Bezug zu seiner realen Umgebung.
Er hörte die Rufe der Wachen wie aus großer Entfernung, während vor seinem geistigen Auge eine Szene entstand, in der sein Vater vor einem blendend weißen Licht stand, das sich ihm näherte, als wollte es mit ihm verschmelzen …
So plötzlich, wie die Vision ihn befallen hatte, wich sie auch wieder. Ts’onot kam mithilfe der herbeigeeilten Wachen stöhnend wieder auf die Beine.
»Braucht Ihr Hilfe, Chilam?«, fragte einer der Krieger.
Ts’onot verneinte aufgewühlt. »Es geht schon, danke!«
Dann wandte er sich wieder der Tür zu, von der er jetzt spürte, dass sie ihn von mehr als nur seinem Vater trennte. »Aber bleibt in Bereitschaft …«
Ah Ahaual fand seine Sprache wieder – löste aber keinen Alarm aus. Noch nicht zumindest.
»Nur die Götter sind unsterblich«, sagte er.
»Oder vermögen Unsterblichkeit zu schenken«, erwiderte die Erscheinung in Weiß. Ein nachsichtiges Lächeln erschien auf den Zügen der Lichtgestalt. »Aber du hast recht, ich spreche nicht vom ewigen Leben, das den Einzelnen betrifft. Ich spreche davon, dass du und dein Volk in die Annalen eingehen werden als diejenigen, die sich ewige Verdienste bei den Höheren Wesen erworben haben.«
»Du wurdest von den Göttern gesandt?«, fragte Ah Ahaual geradeheraus. »Oder bist gar selbst einer?«
»Lass uns nicht darüber reden. Lass uns über das sprechen, was deinen Namen unsterblich machen wird.«
Ah Ahaual stand so sehr unter dem Eindruck der Erscheinung, dass ihm gar nicht in den Sinn kam, aufzubegehren.
Im ersten Reflex, als er die Lichtgestalt gewahrte, hatte er geglaubt, dass die Vergangenheit ihn nun doch noch einholte, um den Tod ihres Boten, den Ts’onot auf dem Gewissen hatte, zu rächen. Doch die strahlend weiße Erscheinung
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