04 - Spuren der Vergangenheit
wenn er sich euch anders präsentieren wird, als ihr erwartet …«
Ts’onot hatte seine Heimat nie verlassen, und so fand er nichts Merkwürdiges daran, dass sie keine oberirdischen Wasserläufe, keine Flüsse oder Bäche besaß. Trinkwasser war ein rares Gut, das nur an heiligen Orten zur Verfügung stand.
Der Grund und Boden, auf dem die Maya lebten, bestand aus stark wasserdurchlässigem Kalksandstein, der von einem wahren Labyrinth aus Adern durchzogen war, in denen das lebenswichtige Nass sich sammelte. Um es zu nutzen oder zu gewinnen, gab es mehrere Möglichkeiten: Mancherorts hatte es erdrutschartige Einbrüche im Gestein gegeben, wo das Wasser frei zugänglich war; an anderer Stelle musste man in Grotten steigen, wo es sich als unterirdischer See präsentierte. Trotzdem hatte die Natur Wege gefunden, es sich nutzbar zu machen und eine prachtvolle Flora und Fauna zu erschaffen.
Und ein prachtvolles Volk, dachte Ts’onot, dem während des Marschs tausend Gedanken durch den Kopf gingen.
Er war stolz, ein Maya zu sein. Und offenbar waren auch die Götter stolz auf sein Volk – sonst hätten sie ihm keine Aufgabe wie diese übertragen.
Was genau eine »Maschine« war, wusste Ts’onot nicht. Aber wenn die Götter es benötigten, musste es etwas Ehrfurcht Gebietendes sein. Mit einem Herzstück, das bislang nur Ah Ahaual und er zu sehen bekommen hatten: ein faustgroßer, vollkommen schwarzer Kristall, dessen Seiten facettenartig geschliffen waren. Der Himmelsstein.
Wir werden ihn noch heute finden! Ts’onot war voller Vorfreude. Und er wäre nicht der Chilam gewesen, hätte er nicht wenigstens versucht, auch seine Gabe auf das Rätsel anzusetzen. Doch er hatte sie nicht erwecken können.
Er dachte nicht zum ersten Mal an die Zauberdinge, die sein Vater ihm übergeben hatte: Armreif und Klinge. Ob er den Göttergesandten fragen sollte, welche Bewandtnis es damit hatte? Sicher verfügte er über ein Wissen, das jedem Sterblichen überlegen war.
Doch Ts’onots Gefühl riet ihm hartnäckig davon ab, auch nur einen der Gegenstände zur Sprache zu bringen.
Später vielleicht. Doch zunächst wollte er sich nur auf den Fund konzentrieren, der erst noch gemacht werden musste.
Wenn die Götter dem Himmelsstein eine solche Bedeutung zusprachen, musste er ein Gebilde mit unvorstellbarer Macht sein.
»Wie weit noch?«, wandte er sich gegen Ende des zweiten Tages erneut an ihren Führer. »Werden wir es heute überhaupt schaffen?«
Zu seiner Überraschung zeigte der Gesandte auf einen Hügel, der höchstens noch eine Stunde Fußmarsch entfernt lag. »Dahinter«, sagte er, »liegt unser Ziel.«
***
Statt den kegelförmigen Hügel zu ersteigen, der aus der gleichförmigen Landschaft hervorstach, umrundeten sie ihn.
Schließlich kamen sie vor einer Wasserstelle an, die sich im Schatten des Hügels nicht größer als zwanzig Mannslängen im Durchmesser ausdehnte. Mehr ein Tümpel als ein See, der sich unspektakulär in die Umgebung einpasste, gesäumt von Buschwerk und ein paar Bäumen.
Als der Weiße innehielt, waren Ts’onot und seine Männer gedanklich noch gar nicht darauf vorbereitet, am Ziel angelangt zu sein. Zu vage war die Beschreibung »hinter dem Hügel« gewesen.
Doch ihr Führer ließ keinen Zweifel, zeigte auf das Wasser. »Dort liegt der Himmelsstein.«
»Unter Wasser?«, wunderte sich Ts’onot. Er hatte einen würdigeren Fundort erwartet. Und keinen, der ein unübersehbares Problem aufwarf. »Wie sollen wir ihn da drin finden?«
»Ihr müsst tauchen.«
»Wie tief ist das Wasser?«
»Halb so tief wie breit.«
Durch die Reihen der Maya ging ein Raunen. Ts’onot sprach aus, was alle dachten: »Das ist zu tief. Niemand von uns war je –«
»Keine Sorge«, unterbrach ihn der Weiße. »Ich werde denjenigen, der hinabtaucht, begleiten. Und ich habe dich, Ts’onot, dazu auserkoren.«
Alles Sträuben half nichts. Bedrängt auch von seinen eigenen Männern, willigte Ts’onot schließlich ein. Der kräftezehrende Marsch sollte nicht umsonst gewesen sein – und offenbar führte kein Weg daran vorbei, sich in die Tiefe zu begeben. Der Himmelsstein, der sein Volk auf eine neue Stufe heben sollte, lag und wartete dort unten.
Ts’onot tauchte nicht zum ersten Mal – aber noch nie hatte er dabei mehr als zwei Mannslängen überwinden müssen. Hier aber würde es fünfmal so tief gehen! Und unten angekommen, würde er den Himmelsstein erst einmal finden müssen.
»Sei unbesorgt, das ist
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