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04 - Spuren der Vergangenheit

04 - Spuren der Vergangenheit

Titel: 04 - Spuren der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Weinland
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gesprungen war.
    Warum er sich für Beton statt Blei entschieden hatte, wusste er selbst nicht.
    Unaufhaltsam stürzte er die Fassade entlang nach unten, und selbst jetzt ließen seine Finger die Tasche mit den Büchern nicht los …
    10.
    Vergangenheit
    Das Tiefland seiner Heimat war eine Brutstätte tödlicher Gefahren. Wohin man den Fuß auch setzte, konnte das Verhängnis lauern.
    Manchmal konnte sich Ts’onot des Gefühls nicht erwehren, dass die Natur ihre Farben und Gerüche nur aus einem einzigen Grund so überbordend zur Schau stellte: als Lockmittel. Oder im Extremfall als Köder für Fallen, aus denen es kaum ein Entrinnen gab, war man erst hineingetappt.
    »Wie weit ist es noch?«, wandte er sich an den Lotsen der Expedition, dem ein so starker Kriegertrupp folgte, dass Beobachter den Eindruck gewinnen mussten, sie zögen in eine Schlacht.
    Tatsächlich ging es jedoch nur darum, einen Gegenstand zu finden und heim in die Stadt zu schaffen, den der Gesandte der Götter als Kern- oder Herzstück der von ihm angekündigten »Maschine« bezeichnete.
    Den Himmelsstein.
    Ts’onot hatte Ah Ahaual förmlich beknien müssen, um an der Expedition teilnehmen zu dürfen. Zunächst hatte sein Vater das Ansinnen kategorisch abgelehnt. Ts’onot, hatte er ihm erklärt, sollte eines Tages seinen Platz übernehmen, und einen anderen potenziellen Thronfolger, der seiner direkten Blutlinie abstammte, gab es bislang nicht.
    Nur ein lebender Sohn konnte die ihm zugedachte Rolle erfüllen, hatte Ah Ahaual argumentiert. Doch Ts’onot hatte nicht locker gelassen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er jemanden in Zusammenhang mit seiner Gabe belogen.
    Ah Ahaual glaubte nun fest, sein Sohn, der Prophet, habe sich selbst in ferner Zukunft gesund und einflussreich auf dem Thron des Reiches sitzen sehen.
    Obwohl ihm diese Finte letztlich den Weg geebnet hatte, die Expedition nicht nur zu begleiten, sondern sogar zu leiten, haderte Ts’onot seit ihrem Aufbruch aus der Stadt mit sich. Was hatte ihn nur dazu verleitet, seine Glaubwürdigkeit als Seher in die Waagschale zu werfen? Wenn sein Betrug durchschaut wurde, würde ihm nie wieder irgendjemand sein ungetrübtes Vertrauen schenken!
    Das Schlimme war: Er wusste selbst nicht, warum er unter allen Umständen an der Expedition teilnehmen wollte. Allerdings hegte er den Verdacht, dass es mit dem Gesandten der Götter zu tun hatte, der sie durch das Tiefland begleitete und genau genommen auch anführte.
    Denn niemand anders als der »Weiße« wandelte neben ihm, um sie zu dem Schatz zu führen, der sein Volk schon zu Lebzeiten dem Paradies eine Ebene auf dem Wacah Chan, dem Weltenbaum, näher bringen sollte.
    Der Weiße hatte sich verändert, er war nicht mehr sonnenhell wie bei der ersten Begegnung im Ratssaal. Trotzdem wirkte er auf Ts’onot und die anderen Maya keinen Moment lang wie ein Mensch. Er musste nicht leuchten, um anders zu sein. Etwas ging von ihm aus, das alle in seinen Bann schlug. Sein Gesicht war zu makellos, seine anstrengungsfreie Ausdauer zu extrem und seine Orientierungsfähigkeit selbst im dichtesten Wald, durch den er sie führte, zu perfekt, als dass er ein normaler Sterblicher hätte sein können.
    Am Unheimlichsten aber fand Ts’onot die Tatsache, dass sich Haar und Kleidung des Weißen selbst bei starkem Wind nicht erkennbar bewegten. Jede Nuance an ihm wirkte beherrscht – in jeder Situation. Das betraf auch die Mimik, wie Ts’onot sie sparsamer noch bei niemandem erlebt hatte.
    Auch jetzt wirkte das Gesicht des Göttlichen wie aus blütenweißem Stein gemeißelt, als er sagte: »Ich bemerke Anzeichen von Erschöpfung bei dir und den anderen. Sollen wir eine Rast einlegen?«
    Ts’onot überlegte, ob der Weiße das aus Sorge um den Expeditionstrupp fragte – oder doch nur aus der Sorge, das Unternehmen könne scheitern, wenn er die Kräfte seiner Helfer überforderte.
    Aber die Krieger seines Volkes waren zäh. Und die Propheten auch, fügte Ts’onot in Gedanken hinzu, was ihm ein in diesem Moment wahrscheinlich unpassendes Schmunzeln um die Lippen zauberte. »Wie weit ist es noch?«, fragte er.
    Der Weiße hielt kurz inne, sein Körper, dessen Füße kaum den Boden zu berühren schienen, drehte sich unmerklich etwas mehr nach links, dann eine noch winzigere Spur nach rechts und verharrte so, als habe er sich erst auf das Ziel ausrichten müssen. Er sagte: »Bei gleichbleibendem Tempo einen Tag.«
    Das Schmunzeln verging Ts’onot gleich wieder.

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