04 - Spuren der Vergangenheit
gegen den Balkon, um als Querschläger Richtung Stadthimmel zu sirren.
Mehr Ansporn brauchte Tom nicht. Er wälzte sich auf die Knie und zog sich am Geländer hoch. Dann trat er so nah wie möglich an die Verglasung der Fassade heran, in der Hoffnung, sich außerhalb der Schussbahn des Schützen zu befinden.
Das Sonnenlicht spiegelte sich so unvorteilhaft in den Scheiben, dass er nicht dahinter blicken konnte. Er holte mit dem Ellbogen aus, um ein Segment der Türverglasung einzuschlagen …
… als von drinnen geöffnet wurde.
Der eigene Schwung trieb ihn ins Innere – wo er sich verblüfft Maria Luisa Suárez gegenübersah. Bei ihr befand sich ein junger, etwas dicklicher Mann Anfang zwanzig, den sie mit einem Arm umschlang, als wäre er noch ein kleiner schutzbedürftiger Junge. Dabei spross schon leichter Bartwuchs auf seinen Wangen.
Ihr Bruder , erkannte Tom, während Maria Luisa keuchte: »Diese bastardos ! Wie können sie es wagen, auf einen Unbewaffneten zu schießen?«
»Das ist das Problem«, sagte Tom und trat noch einen Schritt weiter von der Balkontür weg in den Raum hinein.
»Was?«, fragte Maria Luisa.
»Dass ich unbewaffnet bin.« Er lächelte verkrampft. »Ich fürchte, damit ist die Sache schon entschieden. Dazu das zahlenmäßige Ungleichgewicht – etwa acht zu eins, schätze ich … Das Ganze läuft auf ein ziemlich eindeutiges Ergebnis hinaus.«
Maria Luisa löste sich von ihrem Bruder, der noch gar nichts gesagt hatte, nur zu Boden blickte, aber dabei gar nicht ängstlich wirkte, und stellte sich Tom in den Weg, als der zur Tür laufen wollte, die auf den Hotelflur führte.
»Sie waren schon hier drin«, sagte sie. »Einer. Er suchte nach … nach dir.«
Sie wechselte zum »du«, und das ganz bewusst, wie ihr kurzes Zögern bewies. Tom nahm es erfreut zur Kenntnis. Jetzt sah er auch, dass die Tür nur angelehnt, das Schloss gesprengt war.
»Dann ist er wieder gegangen?«
Sie nickte. »Ich hörte ihn die Treppe hinauf hasten, den anderen nach.«
»Sie werden gleich wieder hier unten sein. Lass mich vorbei. Du hast gesehen, dass sie schießen, ohne lange zu fackeln.«
Sie stand unverrückbar da. »Dann musst du auch schießen.«
Er lachte bitter auf. »Womit denn? Es reicht nicht, ›Peng!‹ zu rufen.«
Sie schüttelte unwillig den Kopf über seine Flachserei. Dann bückte sie sich und schob das Bett ihres Bruders beherzt beiseite. Die Stützbeine schabten über den Dielenboden.
Tom sah, wie Maria Luisa ein bestimmtes Brett aus den umliegenden heraushob. Es war kürzer als die anderen, aber das fiel bei flüchtiger Betrachtung nicht auf.
»Was ist das?«, fragte er und beugte sich vor, während er nach draußen lauschte, um zu hören, ob sich auf dem Flur schon etwas tat.
Sie holte etwas hervor, das mehrfach in ein öliges Tuch eingeschlagen war. Noch bevor Maria Luisa es ausgewickelt hatte, wusste Tom bereits, worum es sich handelte. Und dann blickte er auf das matt glänzende Metall einer gut erhaltenen Pistole, die Ähnlichkeit mit einer Browning aufwies. Aber es gab Unterschiede.
Maria Luisa streckte sie Tom entgegen, den Schaft voran, und er griff sofort zu. »Ist sie geladen?«, fragte er.
Sie nickte.
»Und funktioniert noch?«
»Davon gehe ich aus. Der Gast, der sie vor Jahren in Zahlung gab, war ein Franzose, der aus der Fremdenlegion abgehauen war. Ich habe sie vor meinem Vater versteckt, damit er keinen Unsinn damit anstellen konnte.« Sie lächelte verlegen.
Obwohl Maria Luisa erklärt hatte, dass die Pistole geladen sei, zog Tom das einreihige Magazin heraus und vergewisserte sich, wie viele Patronen sich darin befanden.
Neun.
»Kaliber 9 Millimeter«, sagte er. »Parabellum.«
»Ich verabscheue Gewalt«, sagte Maria Luisa wie zu sich selbst. »Aber ich weiß, dass die Welt nach anderen Regeln funktioniert, als die Heilige Schrift uns in ihren Geboten empfiehlt.«
Tom nickte. Er verabscheute Gewalt ebenfalls. Aber er wäre längst tot, hätte er nicht, wenn es nötig wurde, Ausnahmen gemacht. »Bleibt, wo ihr seid«, verabschiedete er sich von Maria Luisa und ihrem Bruder. »Es bleibt dabei: Wenn ich es schaffe, melde ich mich.«
Sie sagte etwas, das er nicht verstand. Weil in diesem Moment Geschrei laut wurde. Er gab sich einen Ruck und öffnete die angelehnte Tür einen Spalt.
Da kamen sie.
Und schon hackte die erste Kugel in die Türfassung, nur eine Handbreit neben Toms Kopf.
Statt zurückzuzucken, erwiderte er das Feuer.
Das mischte die
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