04 Verhaengnisvolles Schweigen
nicht so wie Nicholas. Doch sie hatte diese Blicke nie richtig verstanden und sich auch immer gleich abgewandt. Jetzt so allein mit ihm fühlte sie sich schüchtern und verlegen, sie wusste nicht genau, wie sie sich verhalten sollte. Sie brachte den Tee zum Tisch und öffnete eine Dose Kekse.
»Komm schon, Katie«, sagte Stephen. »Du klingst nicht sehr überzeugend.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Doch, das tust du. Ich spüre es doch. Ich habe mich dir von Anfang an auf eine besondere Art verbunden gefühlt. In den letzten paar Monaten habe ich mir Sorgen um dich gemacht.«
»Sorgen? Weshalb?«
»Weil du nicht glücklich bist.«
»Natürlich bin ich glücklich. Das ist doch Blödsinn.«
Stephen seufzte. »Du willst dich mir gegenüber nicht öffnen, oder? Aber du kannst mit mir reden, wenn du willst. Jeder braucht ab und zu jemanden, mit dem er reden kann.«
Katie biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Sie konnte nicht mit ihm reden. Sie konnte mit niemandem über die Dinge reden, die ihr durch den Kopf gingen, über die Sünden, von denen sie träumte, über die Verzweiflung, die sie fühlte. Sie konnte ihm nicht von ihrer einzigen Möglichkeit erzählen, ihrem elenden Leben zu entfliehen, oder davon, was diese Möglichkeit sie bereits gekostet hatte.
»Wie auch immer«, fuhr Stephen fort und nahm einen Keks. »Ich werde vielleicht nicht mehr lange hier sein.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe genug, Katie. Genug von der Firma, dem Haus, dem Dorf. Gott, ich bin fast dreißig. Es wird Zeit, dass ich mal hier rauskomme und etwas von der Welt sehe, bevor ich zu alt dazu bin.«
»A-aber das kannst du nicht«, sagte Katie bestürzt. »Du kannst dich doch nicht so einfach auf und davon machen. Was ist mit -«
Stephen schlug auf den Tisch. »Ach, zum Teufel mit den Verpflichtungen«, sagte er. »Es gibt eine Menge andere, die die Firma leiten wollen und können. Ich werde einen langen Urlaub nehmen und dann vielleicht was anderes versuchen.«
»Warum erzählst du mir das alles?«, wollte Katie wissen.
Als Stephen sie anschaute, bemerkte sie, dass er plötzlich alt aussah, viel älter als seine achtundzwanzig Jahre.
Er fuhr mit der Hand durch seine kurzen, braunen Haare. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich finde, wir sind verwandte Seelen. Du bist der einzige Mensch, dem ich das erzählt habe. Sonst weiß es niemand.«
»Aber dein Bruder ...«
»Nicky? Er würde es nie verstehen. Er interessiert sich nur für seinen Kram. Und glaub ja nicht, ich hätte nicht mitgekriegt, wie er dich anschaut, auch wenn Sam nichts bemerkt hat. Wenn ich du wäre, würde ich mich von ihm fernhalten.«
»Natürlich werde ich das«, sagte Katie und wurde rot. »Was glaubst du denn?«
»Naja, Nicky kann ganz schön überzeugend sein.«
»Was ist mit John?«, fragte Katie. »Oder Sam? Kannst du nicht mit denen reden?«
Stephen lachte. »Sieh mal, Katie«, sagte er. »Nicky, Sam und die anderen, das sind alles gute Trinkkumpane, aber es gibt Dinge, über die ich mit ihnen nicht sprechen kann.«
»Aber warum ich?«
»Weil ich glaube, dass es dir genauso geht. Ich glaube, dass du unzufrieden bist mit deinem Leben und niemanden hast, der dir zuhört. Warum hast du solche Angst, mit mir zu reden? Du sperrst deine ganzen Probleme in dir ein. Magst du mich nicht?«
Katie kreiste mit ihrem Zeigefinger über den Tisch. »Darum geht es nicht«, sagte sie. »Mir geht es gut, wirklich.«
Stephen beugte sich vor. »Warum öffnest du dich nicht und zeigst etwas Gefühl?«, drängte er sie.
»Tu ich doch.«
»Nicht mir gegenüber.«
»Das ist nicht recht.«
»Oh, Katie, du bist so verdammt moralisch.« Stephen stand auf und wandte sich zum Gehen. »Hätte ich nur deine Charakterstärke. Danke, schon in Ordnung, ich finde allein raus.«
Katie wollte ihn zurückrufen, doch sie konnte nicht. Tief im Inneren schwirrte eine schwere, dunkle Kraft, die stärker wurde und sich unaufhaltsam einen Weg nach draußen suchte. Aber es war das Böse, und sie musste es unter Verschluss halten. Sie musste ihr Los hinnehmen, ihren Platz im Leben. Sie war Sams Frau. Das war ihre Bestimmung. Es gab keinen Grund, über Probleme zu sprechen. Was sollte sie Stephen Collier sagen? Oder er ihr? Warum war er gekommen? Was hatte er von ihr gewollt? »Das, was alle Männer wollen«, sagte eine strenge, dunkle Stimme in ihr.
Weitere Kostenlose Bücher