04 Verhaengnisvolles Schweigen
zu finden, war genauso einfach, wie Gerry es geschildert hatte, doch das Umsteigen an der Yonge Street und die Suche nach dem Ausgang an der St. Clair Avenue erwiesen sich als komplizierter. Alle Ausgänge schienen in ein Labyrinth unterirdischer, natürlich klimatisierter Shopping Malls zu führen, so dass es nicht immer einfach war, den richtigen Weg nach draußen zu finden.
Trotzdem hatte er nach einem kurzen Umweg durch einen Supermarkt namens Ziggy's die St. Clair Avenue gefunden, von wo es nur noch ein kurzes Stück bis zum College war.
Jetzt schaute er einen Augenblick aus dem sechsten Stock auf die Bürogebäude gegenüber und auf die cremefarbenen Dächer der Streetcars, die unter ihm hin- und herfuhren, und widmete sich dann einem Stapel Magazine auf dem Tisch.
Mitten in der Lektüre eines Artikels über die Erziehung zum »kritischen Denken« hörte er gedämpfte Stimmen im Flur. Kurz darauf kam eine junge, verdutzt dreinschauende Frau durch die Tür. Eine lockige, braune Haarmähne rahmte ihren runden Kopf. Sie hatte einen kleinen Mund, und wenn sie lachte, zeigte sie ihre winzigen, ebenmäßigen und perlweißen Zähne. Das graue Kaugummi, auf dem sie kaute, quoll zwischen ihnen hervor wie eine neuartige Zahnfleischerkrankung. Sie hatte eine abgewetzte, überfüllte Lederaktentasche unter dem Arm und trug graue Cordhosen und ein kariertes Hemd.
Sie streckte ihre Hand aus. »Marylin Rosenberg. Tom hat gesagt, Sie wollten mich sprechen.«
Banks stellte sich vor und fragte sie, ob er ihr eine Tasse Kaffee einschenken sollte.
»Nein danke«, sagte sie und nahm eine Diätcola aus dem Kühlschrank. »Viel zu heiß für das Zeug. Man sollte eigentlich meinen, in so einem Haus gäbe es eine Klimaanlage, oder?« Als sie die Dose öffnete, sprudelte ihr die Cola förmlich entgegen. »Was wollen Sie von mir?«
»Ich möchte mit Ihnen über Bernard Allen sprechen.«
»Ich bin mit der Polizei schon alles durchgegangen. Es gab wirklich nicht viel zu sagen.«
»Was hat die Polizei Sie gefragt?«
»Nur, ob ich glaube, dass jemand einen Grund hatte, ihn umzubringen, wo meine Kollegen in den letzten paar Wochen waren, solche Sachen.«
»Wollten sie von Ihnen etwas über sein Leben hier wissen?«
»Nur darüber, was für ein Mensch er war.«
»Und?«
»Ich hab ihnen gesagt, dass er ein Einzelgänger war, das war alles. Ich war nicht die Einzige, mit der sie gesprochen haben.«
»Sie sind die Einzige, die jetzt hier ist.«
»Ja, wahrscheinlich.« Sie grinste erneut und ließ ihre schönen Zähne aufblitzen.
»Wenn Bernard nicht so viel mit seinen Kollegen zu tun hatte, hatte er irgendwo anders einen Freundeskreis, außerhalb vom College?«
»Kann ich nicht genau sagen. Schauen Sie, ich kannte Bernie nicht besonders gut ...« Sie zögerte. »Das geht Sie eigentlich gar nichts an, aber ich hätte ihn gerne besser gekannt. Wir waren uns nähergekommen. Langsam. Es war schwer, an ihn heranzukommen. Er hatte diese typisch steife und leicht arrogante englische Art. Ich bin ein einfaches irisch-jüdisches Mädchen aus Montreal.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich mochte ihn. Wir haben hier ein paar Mal zusammen zu Mittag gegessen. Ich hatte gehofft, dass er mich irgendwann mal fragt, ob wir zusammen ausgehen wollen, aber ...«
»Er hat es nie getan?«
»Nein. Er war so verdammt langsam. Ich wusste nicht, wie ich noch deutlicher werden sollte, ohne mir die Klamotten vom Leib zu reißen und mich auf ihn zu stürzen. Doch jetzt ist es zu spät, selbst dazu.«
»In welcher gefühlsmäßigen Verfassung schien er vor seiner Englandreise zu sein?«
Marylin runzelte die Stirn und biss beim Nachdenken auf ihre Unterlippe. »Er war noch nicht ganz über seine Scheidung weggekommen«, sagte sie schließlich. »Also schätze ich, dass er für eine Weile nichts mit Frauen am Hut hatte.«
»Kannten Sie seine Exfrau?«
»Nein, nicht richtig.«
»Was ist mit ihrem Liebhaber?«
»Ja, den kannte ich. Er hat auch mal hier gearbeitet. Ein unausstehlicher Typ.«
»In welcher Hinsicht?«
»In jeder. Ein aufgeplusterter Macho. Und sie stand drauf. Ich kann es Bernie nicht verdenken, dass er sich mies fühlte, andererseits konnte er von Glück sagen, sie los zu sein. Er wäre drüber hinweggekommen.«
»Aber er war noch geknickt?«
»Ja. Hat sich irgendwie verschlossen.«
»Wie kam er mit seinen
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