04 Verhaengnisvolles Schweigen
losgegangen und habe ihn gesucht«, sagte sie. »Er ist ein Tier, ein widerliches Tier.«
»Aber er ist mein Bruder, Katie. Er ist der Einzige, der mir von meiner Familie noch geblieben ist. Ich weiß, dass er sich manchmal grauenhaft benimmt, aber ... Ich verspreche dir, dass es nie wieder vorkommt.«
Katie erinnerte sich an einen Satz aus der Bibel: »Bin ich der Hüter meines Bruders?« Konnte Stephen Nicholas wie ein Tier im Zoo halten? Er sah angespannt aus, dachte sie. Beim Gehen stocherte er mit seinem Eschenstock zwischen den Steinen und im Gras herum. Sein Gesicht war blass, und das Zucken in seinem Auge war schlimmer geworden.
Es war herrliches Wanderwetter, warm, aber nicht heiß, am Himmel nur ein paar hoch stehende, weiße Wolken und keinerlei Anzeichen für Regen. Sam war den Tag über in Eastvale, aber ihr Spaziergang mit Stephen hätte ihm sicher ohnehin nichts ausgemacht. Er drängte sie praktisch in die Arme der Colliers, so als wäre sie sein Mitgliedsausweis für irgendeinen exklusiven Club.
Sie nahmen den Weg, der diagonal über den Hang des Swainshead-Berges verlief, und wollten zur Quelle des Flusses gehen. Nachdem sie ein paar Minuten in der klaren Luft unterwegs waren, begannen selbst Stephens blasse Wangen zu glühen.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Die Quelle des Flusses Swain war ein unspektakulärer feuchter Flecken am Hang des Swainshead-Berges. In der näheren Umgebung war das Gras grüner und wuchs üppiger als anderswo. Nur wenige Meter weiter war die Quelle eines anderen Flusses, des Gaiel, der sich, wenn er den Talgrund erreichte, widernatürlich nach Norden Richtung Cumbria wandte.
Stephen hatte Schokolade und eine Thermoskanne mit Kaffee mitgebracht. Sie setzten sich zur Rast auf das trockene Gras oberhalb der Quelle und schauten hinab auf Swainshead. Ein Reiher schwebte durch die Luft und gab seinen gedehnten Singsang von sich. Dann sackte er ab, schlug die Flügel wie Blätter in einem Sturm, fand das Gleichgewicht und setzte auf dem Boden auf.
»Er will bestimmt ein Weibchen beeindrucken«, sagte Stephen.
»Oder uns verjagen.«
»Vielleicht. Kaffee? Schokolade?«
Katie nahm einen Plastikbecher mit schwarzem Kaffee an. Normalerweise mochte sie Kaffee nur mit viel Milch und einem Teelöffel Zucker, aber jetzt trank sie ihn so, ohne sich zu beschweren. Bei der dunklen Bitterschokolade verzog sie den Mund.
»Ich sollte nicht hier sein«, sagte sie und schob eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.
»Entspann dich«, sagte Stephen. »Sam ist in Eastvale.«
»Ich weiß. Aber darum geht es nicht. Die Leute werden reden.«
»Warum sollten sie? Es gibt nichts, über das man reden könnte. Jeder weiß, dass wir alle Freunde sind. Du bist so altmodisch, Katie.«
Katie wurde rot. »Ich kann nichts dagegen machen. Ich wünschte, ich könnte«, fügte sie flüsternd hinzu.
»Hör mal«, fuhr Stephen beruhigend fort, »wir sind nur für einen kurzen Ausflug den Berg hinaufgegangen, wie es viele Leute tun. Was kann das schaden? Wir verstecken uns vor niemandem, wir schleichen uns nicht davon. Du benimmst dich, als würden wir eine schreckliche Schuld auf uns laden.«
»Es kommt mir einfach falsch vor«, sagte Katie und brachte ein kurzes Lächeln zustande. »Oh, mach dir nichts draus. Ich bemühe mich, wirklich. Ich kann nur nicht gut mit Menschen.«
»Fühlst du dich nicht wohl mit mir?«
Katie fummelte mit dem Silberpapier der Schokolade herum und faltete ein ordentliches, glänzendes Quadrat. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Angst habe ich nicht.«
Stephen lachte. »Das ist ja immerhin schon mal ein Anfang. Aber ernsthaft, Katie, manchmal muss man reden. Ich habe dir neulich gesagt, dass ich niemanden habe. Nick ist kaum der Typ für einen guten Zuhörer, und die Leute in der Firma sind nur Arbeitskollegen, aber keine Freunde.«
»Und die ganzen Gäste bei der Party?«
»Hauptsächlich Bekannte von Nick. Oder Leute von der Arbeit, Geschäftspartner. Musst du nie mit jemandem richtig reden, Katie? Hast du nie Probleme, die du rauslassen und teilen willst?«
Katie runzelte die Stirn und starrte ihn an. »Doch«, sagte sie. »Doch, natürlich. Aber ich kann das nicht gut. Ich weiß nie, wo ich anfangen soll.«
»Fang mit deinem Leben an, Katie. Bist du glücklich?«
»Weiß ich nicht. Sollte ich?«
»Das Leben ist doch dafür da, um es zu genießen,
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