040 - Paris, Stadt der Sünde
Verdächtigen gleichfalls ausschließen. Wen gibt es noch?“
Rohan zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich neige ja zu einer anderen Theorie, so abwegig sie auch klingen mag. Angenommen, ich wäre gar nicht das Ziel des Anschlags gewesen?“
„Denkst du, jemand wollte mich töten?“ Reading zog eine Braue hoch. „Wenn du mir den Einwand gestattest, Francis, ich kann mich nicht so vieler Feinde brüsten wie du.“
„Nein, ich rede nicht von dir. Meine liebe Miss Harriman. Ich hatte sie nämlich eine knappe Stunde vor dem Anschlag in dieser Kutsche in die Rue du Pélican gefahren.
Was wäre, wenn der Mörder glaubte, sie säße neben mir im Wagen, und der Schuss galt ihr?“
„Und warum sollte jemand Miss Harriman töten wollen?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber ich werde die Idee einfach nicht los. Ich habe mir auch Gedanken über den Brand in der Rue du Pélican gemacht. Lady Caroline war bettlägerig, ihr Schlafzimmer lag im hinteren Teil des Hauses. Wie war es ihr gelungen, das Bett zu verlassen und Feuer im ganzen Haus zu legen?“
„Soll sie denn das Feuer gelegt haben?“
„Davon geht die Familie aus. Es war eindeutig Brandstiftung. Und das bedeutet, dass deiner süßen Lydia gleichfalls Gefahr droht.“
Er konnte sehen, wie Reading sich versteifte. Der bedauernswerte Junge, dachte Rohan mitleidvoll. Er war über beide Ohren verliebt wie ein Grünschnabel, vernarrt in zwei blaue Augen und ein hübsches Gesicht – nur gut, dass ihm so etwas nicht passieren konnte.
„Bleibt immer noch die Frage“, sagte Reading, „aus welchem Grund sollte jemand Miss Harriman nach dem Leben trachten?“
„Was weißt du über diesen Lord Tolliver?“, stellte Rohan die Gegenfrage.
Der Vertrag in exakten Druckbuchstaben lag auf dem Tisch. Miss Elinor Harriman verpflichtet sich bis zum Ende der Fastenzeit im Maison de Giverney zu wohnen, während ihre Schwester Lydia sich im Château des Comtes aufhält. Darunter ihre schwungvolle Unterschrift.
Es war keineswegs der erste Vertrag, den Elinor unterzeichnete. Während die kleinen Leute in Paris ihre Geschäfte mit Handschlag zu besiegeln pflegten, gab es eine Reihe von Abmachungen, ihre Mutter und die Familie betreffend, die der schriftlichen Bestätigung bedurft hatten.
Und diesen Vertrag würde sie brechen.
Sie könnte sich einreden, es sei seine Schuld. Er hatte sie genötigt, hatte ihr diese Situation aufgezwungen, und sie tat nur, was sie tun musste. Er hatte nichts anderes verdient.
Und wieso beschlich sie das Gefühl, etwas Unehrenhaftes zu tun?
Dummes Zeug. Irgendein Mensch in diesem großen Haus hatte ein Einsehen mit ihr.
Ein warmer Umhang und derbe Stiefel waren unter ihrem Bett versteckt worden.
Und unter dem Kissen lagen ein Zettel und ein Beutel Münzen. Fliehe, wenn du kannst , lautete die Botschaft, und sie wäre eine Närrin, dieser Aufforderung nicht zu folgen.
Offenbar hatte sie Freunde in diesem Haus, konnte Willis und Jeanne-Louise zu den Menschen zählen, die ihr Sympathien entgegenbrachten.
Allerdings erschien es ihr unwahrscheinlich, dass die beiden des Schreibens mächtig waren, schon gar nicht in dieser kultivierten männlichen Handschrift.
Und dann kam ihr die Idee. Mr Reading. Er war in Lydia verliebt, wahrte allerdings aus rätselhaften Gründen Distanz zu ihr. Vielleicht wollte er mit Elinors Befreiung Lydias Gunst gewinnen. Wobei diese Überlegung einen Widerspruch in sich darstellte, da Lydia ihm ihre Gefühle deutlich gezeigt hatte und er es war, der sich von ihr fernhielt.
Wie dem auch sei, diese günstige Gelegenheit zur Flucht durfte sie sich nicht entgehen lassen. Aber wohin sollte sie sich wenden, wenn es ihr tatsächlich gelingen sollte, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen? Zunächst galt es, zum Château zu gelangen und Lydia abzuholen. Mrs Clarke würde ihr gewiss keine Schwierigkeiten machen. Aber wie sollte sie sich unbemerkt an Jeanne-Louise vorbeischleichen? Gar nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn sie Rohan begegnete. Der Mann schien durch die weitläufigen Korridore zu streifen, lautlos wie eine riesige Fledermaus, um sich auf seine Beute zu stürzen.
Sie hatte keine Ahnung, ob Fledermäuse sich tatsächlich auf Beute stürzten. Im Übrigen hatte Rohan keinerlei Ähnlichkeit mit einer Fledermaus, diesen grässlichen Biestern, die in erschreckender Weise Ratten glichen, vor denen ihr so fürchterlich graute.
Rohan war eher mit einer großen Katze zu vergleichen. In ihrer
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