040 - Paris, Stadt der Sünde
sie sich stets mit ihren Nöten und Kümmernissen gewendet hatte. Ihre letzten Habseligkeiten waren verbrannt, und nun hatten die Schwestern nur noch einander, um sich Trost zu spenden.
Lydia brauchte sie. Sie durfte nicht im Bett bleiben, durfte sich nicht die Decke über die Ohren ziehen und so tun, als sei nichts geschehen. Sie musste Pläne für die Zukunft schmieden. Die Mildtätigkeit von Viscount Rohan anzunehmen war schlimm genug, aber unter seinem Dach zu wohnen würde Lydias Chancen auf eine sorgenfreie Zukunft an der Seite eines rechtschaffenen Mannes völlig zunichtemachen.
Obwohl Etienne alle Anzeichen der Verliebtheit erkennen ließ, stand zu befürchten, dass Lydia seinen Antrag ablehnte. Denn Elinor hatte genau gesehen, wie sie sich in Charles Readings Arme geschmiegt und sich bitterlich bei ihm ausgeweint hatte.
Möglicherweise war sie zu sehr von diesem gefährlichen Mann geblendet, um Etiennes Werte zu erkennen.
Andererseits war Lydia nie flatterhaft gewesen. Unzählige Männer waren von ihrem Charme und ihrer Schönheit hingerissen, und sie hatte alle mit der gleichen distanzierten Freundlichkeit behandelt.
Charles Reading allein bildete die Ausnahme.
Elinor öffnete die Augen. Schwaches graugrünes Licht erfüllte den Raum. Sie schloss die Augen erneut, aller Mut drohte sie zu verlassen. Doch dann gab sie sich innerlich einen Ruck und setzte sich auf.
Sie lag in einem riesigen Bett, die Laken fühlten sich seidig an. Zaghaft begann sie, den Blick schweifen zu lassen, hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war.
Ihre Erinnerung an die vergangene Schreckensnacht war verschwommen. Sie erinnerte sich nur deutlich daran, dass Nanny Maude gestorben war. Sie war friedlich entschlafen. Und Elinor hatte sich auf die Suche nach Lydia begeben in diesem riesigen dunklen Haus. Dann war nichts mehr.
Sie trug nicht mehr ihr schmutziges Nachthemd. Jemand hatte sie entkleidet und ihr ein frisches Hemd aus feinstem Batist angezogen. Sie stank nicht mehr nach Ruß und Rauch. Offenbar hatte man sie auch gebadet. Und als sie die Beine aus dem Bett schwang, stellte sie fest, dass ihre Füße verbunden waren.
Die Vorstellung, nackt ausgezogen und gebadet worden zu sein, ohne dass sie etwas davon bemerkt hatte, war höchst verstörend. Doch dann verwarf sie ihre Befürchtungen als unbegründet. Ihr Gastgeber wider Willen hatte gewiss seine Mägde angewiesen, sich ihrer anzunehmen, während er sich seinen nächtlichen Vergnügungen hingegeben hatte.
Elinor kletterte aus dem sündhaft bequemen Bett und humpelte zum Fenster des geräumigen Zimmers, dessen luxuriöse Einrichtung sie einschüchterte. Sie zog die Vorhänge auf und ließ das graue Tageslicht ein. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, und ein Blick in den verhangenen Himmel gab ihr keine Auskunft. Draußen tobte ein heftiger Schneesturm, die Flocken stoben in wilden Wirbeln hernieder und klebten an den Scheiben. Auf der Straße häuften sich hohe Schneewehen, und durch die Fensterritzen drang ein kalter Luftzug. Fröstelnd zog sie den Vorhang wieder zu.
Das Feuer im mannshohen Kamin verbreitete wohlige Wärme. Am Fußende des Bettes lag ein eleganter Morgenmantel, in den sie schlüpfte und an den Kamin trat.
Sie hatte das Gefühl, als habe der Schneesturm auch ihren Verstand durcheinandergewirbelt, sie konnte immer noch nicht klar denken. Vielleicht hatte sie zu lange geschlafen oder nicht lange genug, aber sie durfte diesen benommenen Zustand der Schwäche nicht länger dulden.
Entschlossen öffnete sie die Tür zum Korridor, in dem Dienstboten geschäftig hin und her eilten. Eine junge Frau unterbrach augenblicklich ihre Arbeit und eilte zu ihr. „Sie sind wach, Madame“, bemerkte sie unnötigerweise. „Als ich das letzte Mal nach Ihnen gesehen habe, schliefen Sie noch tief und fest. Wenn Sie sich freundlicherweise wieder in Ihr Gemach begeben, bringe ich Ihnen einen Imbiss ...“
Elinor blickte über ihre Schulter den Flur entlang. Die Diener waren damit beschäftigt, die Porträts mit schwarzen Tüchern zu verhängen, stellte sie befremdet fest. „Ich möchte meine Schwester sehen“, sagte sie. „Bringen Sie mich zu ihr.“
Die Dienerin zögerte. „Seine Lordschaft wünscht, dass Sie in Ihrem Zimmer bleiben und nicht durchs Haus irren.“
„Wenn Sie mich zu meiner Schwester bringen, muss ich nicht durchs Haus irren“, entgegnete sie sachlich. „Und wenn Sie mich nicht zu ihr bringen, muss ich sie eben suchen.“
Das
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