0400 - Jenseits-Melodie
Hanco, daß tatsächlich etwas nicht stimmte.
Automatisch bewegte er seine Finger, doch er war nicht mehr so dabei wie zu Beginn seiner Demonstration.
»Ich habe dir nicht die Erlaubnis gegeben, meine Melodie spielen zu dürfen. Du hättest mich fragen sollen.«
»Wer bist du denn?« Hanco wunderte sich nicht einmal darüber, daß er mit diesem Unbekannten Zwiesprache hielt. Er nahm es schon als erschreckend selbstverständlich hin.
»Kennst du mich nicht?«
»Nein.«
»Ich habe dieses Lied geschaffen. Ich bin Manfredo Cardinal.«
»Der Tote…« Diese Antwort rutschte Hanco flüsternd über die Lippen, und er merkte nicht einmal, daß er einen falschen Ton anschlug. So sehr hatte ihn der Geist des anderen eingelullt, und Hanco horchte weiter auf dessen Worte.
»Nur derjenige, der von mir die Erlaubnis bekam, darf meine Melodie spielen. Sie ist etwas Besonderes. So kostbar wie ein Schatz, aber das weiß nur ich.«
»Warum? Ich…«
»Nein, du darfst sie nicht spielen. Ich will es nicht. Hör sofort auf! Ich zeige den anderen, wie man sie spielt. Du darfst es nicht, Mensch. Du nicht…«
Aber Hanco spielte weiter. Das Licht fiel auf ihn und den Flügel.
Ein jeder konnte den Pianisten und dessen Instrument sehen und erkennen, mit welch einer Hingabe der Mann seine alte Melodie intonierte. Er schien mit den Noten und Klängen verwachsen zu sein, aber auf seinem Gesicht spielten sich keine Gefühle wieder. Es blieb unnatürlich starr, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Deshalb war sein Spiel auch nicht so gut. Das fiel auch Rille auf, der den Kopf schüttelte.
»Was hat er nur? Das fing so gut an, und jetzt ist er irgendwie aus dem Rhythmus.«
Niemand gab ihm darauf eine Antwort. Nur einer hätte es ihm sagen können, aber der war zu sehr mit sich selbst und dem beschäftigt, was er nur allein zu hören bekam.
Die Stimme lockte ihn. Sie hatte sich zu einem zischenden Flüstern gesteigert, so daß der Mann jedes einzelne Wort verstehen konnte, das gesprochen wurde.
»Du hast, ohne mich zu fragen, gespielt. Das kann ich nicht verzeihen. Du hast mich hergelockt aus einer tiefen, anderen Welt, und dafür wirst du büßen. Niemand spielt meine Komposition, ohne daß ich die Einwilli gung dazu gegeben hätte. Niemand…«
»Aber ich…« Mehr brachte Hanco nicht hervor. Seine Stimme versagte und wurde zu einem undeutlichen Flüstern. Schon längst hatte er gespürt, daß der andere stärker war als er. Hanco kam sich vor wie Wachs in den Händen des Unbekannten, der mit ihm machen konnte, was er wollte, und er hatte die Warnung sehr wohl verstanden, aber er hielt sich nicht daran. Noch eine Minute ungefähr mußte er durchhalten, dann war sein Spiel beendet. Nur sechzig Sekunden …
Das wollte Cardinal nicht.
Er, der Schöpfer des Musikstücks, der geniale Erfinder, der einen Blick hinter die Kulissen der Welt hatte werfen dürfen, überwand Zeit, Grenzen und Raum.
Er kam…
Nicht Hanco entdeckte ihn zuerst, sondern eines der beiden Mädchen, die Rille einrahmten. Die Kleine sprang so heftig auf, daß Rilles Kaffeetasse umfiel und der Rest der Brühe verschüttet wurde.
»Da ist was!« kreischte sie.
Rille, er hatte anfangen wollen zu toben, schluckte die Worte herunter und starrte auf das Klavier.
Dort befand sich tatsächlich etwas.
Er wollte es kaum glauben, strich über seine Stirn, die Augen und auch die Wangen, denn er sah ein grauenhaftes Geschöpf, das über dem Flügel schwebte.
Es war eine Hand, auf dessen Gelenk ein Kopf wuchs!
***
Rille wußte nicht, was er sagen sollte. Auch seine beiden Freundinnen gaben keinen Laut von sich. Sie waren entsetzt und starrten schweigend auf das Gebilde über dem Flügel.
Ein Kopf und eine Hand.
Beide waren miteinander verwachsen, und sie kamen den Mädchen vor, als bestünden sie aus Kunststoff oder Hartgummi. Aber der Mund schloß sich plötzlich, und da wurde ihnen klar, daß dieses Gebilde unter Umständen echt sein konnte.
Noch immer drang kein Laut über ihre Lippen. Sie saßen starr auf den Stühlen und starrten nur auf das Piano. Auch andere Gäste hatten es gesehen, niemand aber reagierte. Man hielt es noch für einen Gag. Bis auf Rille.
Der Mann war geschockt. Er wußte, daß etwas nicht stimmte, denn er hatte zuvor gehört, daß einiges an diesem Stück nicht so gespielt worden war, wie es eigentlich hätte sein sollen.
Sehr langsam drückte er sich in die Höhe. Dabei stemmte er seine Hände auf die Tischplatte, wollte Hanco
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