0405 - Mit Blut geschrieben
ihrer linken Hand auch das Gelenk ab und zog.
Steinplatten sind schwer. Da haben die meisten Männer Mühe, sie in die Höhe zu wuchten.
Nicht hier in diesem Verlies!
Die Horror-Oma wunderte sich, dass sie es schon beim ersten Versuch schaffte. Sie vernahm das Knirschen an den Rändern, und es gelang ihr, die Klappe hochkant zu stellen. Sie kippte sie dann zur Seite, wo sie mit einem satten Geräusch niederfiel.
Der Blick war frei.
Das fahlgrüne Licht fiel in die viereckige Öffnung, unter der ein kleiner Schacht begann. Er war nicht sehr tief. Wenn Sarah Goldwyn den Arm ausstreckte, konnte sie mit der Hand bequem den Boden des Schachts erreichen.
In den vergangenen Minuten war sie wieder ruhiger geworden.
Nun aber kehrte die Aufregung zurück. Dies doppelt und dreifach.
Sie spürte die Kälte in ihrem Nacken und hatte Mühe, Luft zu holen.
Ihre Augen brannten.
Auf den Handflächen lag ein dicker Schmierfilm. Sie putzte sich die Hände am Mantel ab. Dass lange Streifen zurückblieben, störte sie nicht.
»Nimm es an dich!«
Lady Sarah nickte. Sprechen konnte sie nicht mehr, denn ihr Blick war auf das Testament gerichtet. Rasputin hatte die Kladde mit Ölpapier verpackt und mit einer Kordel gesichert.
Leider hatte sie keine Schere zur Hand, so musste sie die Knoten lösen.
Das war schwer genug. Zudem zitterten ihr die Hände, und Rasputin trieb sie durch seine flüsternde Stimme an. »Du musst dich beeilen. Andere sind unterwegs. Sie verfolgen den Dolch.«
»Es ist John Sinclair.«
»Ja, aber das Testament soll dir gehören. Du sollst es finden, Lady Sarah.«
»Ich versuche ja alles.« Sie beeilte sich wirklich, aber es war verdammt schwer. Ihre Finger zitterten, sie schaffte es kaum, den Knoten zu lockern, ein Nagel brach ab, aber Lady Sarah machte unverdrossen weiter und schaffte es tatsächlich nach einer Weile, das Band über die rechte Seite des kleinen Päckchens zu ziehen.
Der Rest war ein Kinderspiel.
Das Ölpapier knisterte zwischen ihren Fingern, als sie es zur Seite bog und das entdeckte, was es bisher verborgen gehalten hatte.
Es war das Buch! Eine dicke Kladde. Das mussten mehr als fünfzig beschriebene Seiten sein, wie die Horror-Oma beim ersten Blick feststellte. Sie rückte ein Stück zurück, drehte sich und stand auf, wobei sie die Arme vorgestreckt hielt.
Auf ihnen lag das Testament.
Sarah Goldwyn trug es wie einen kostbaren Schatz, nach dem jemand jahrelang gesucht hatte. Sie war erregt, in ihrer Kehle spürte sie eine selten erlebte Trockenheit, und sie vernahm auch wieder Rasputins Stimme.
»Dein Ziel ist erreicht.«
»Und jetzt?«
»Wirst du dieses Verlies verlassen und dorthin gehen, wo ich es will. Du wirst dich durch nichts aufhalten lassen. Weder durch Freunde noch durch Feinde, und du wirst einen Beschützer haben, Baals Opferdolch. Er zeigt dir den Weg in die Freiheit, er wird dein Begleiter sein. Kein anderer darf an das Testament heran.«
Das gefiel der Horror-Oma nicht. »Aber John Sinclair wird es haben wollen.«
»Auch er nicht. Es ist zu wichtig. Du sollst seine Geheimnisse kennen lernen.«
»Und weshalb gerade ich?«, fragte sie, wobei in ihrer Stimme ein verzweifelt klingender Unterton mitschwang.
»Weil ich dich dazu ausersehen habe, das ist es. Ich brauche jemanden in der normalen Welt, der zu mir steht. Hast du verstanden? Du und ich, wir beide werden uns in Zukunft näher miteinander beschäftigen. Du wirst von mir als Partnerin anerkannt. Ich habe lange gesucht und Ludmilla Prokowa gefunden, aber sie starb, weil der Tod sich zwischen die Karten gemischt hatte. Du aber wirst noch leben und nur auf mich hören, was immer du tust.«
»Aber da ist John Sinclair. Du hast dich in seinem Kreuz manifestiert. Dann hast du auch mit ihm Kontakt.«
»Sinclair ist ein anderes Problem. Verlasse diesen Raum jetzt. Gehe aus dem Kloster.«
»Ja, natürlich.« Lady Sarah tat, was man ihr befohlen hatte. Sie ging mit kleinen, vorsichtigen und auch zögernden Schritten. Das Buch mit seinem dunklen Einband lag weiterhin auf ihren Händen.
Sie sah keinen Titel.
An der Treppe blieb sie stehen. Um den unterirdischen Bereich zu verlassen, musste sie die Stufen hochsteigen, und damit begann sie.
So finster wie auf ihrem Hinweg war es nicht mehr, der grüne Schein begleitete sie auch hier. Wenn sie die Stufen hochblickte, sah sie schwach das Licht der offenen Tür. Es war für sie wie ein Hoffnungsschimmer. Diesmal konnte sie sich nicht am Geländer festhalten, so
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