0407 - Am Tisch des Henkers
offizielle Lesart. Gerüchte hatten allerdings von einer anderen Tatsache gesprochen. Es sollte eine Rache gewesen sein. Die Verwandten der Hingerichteten hatten sich auf furchtbare Art und Weise gerächt, doch das interessierte nicht mehr. Dieser kalte Druck der Schwertklinge war viel schlimmer.
»Hast du alles verstanden?«
»Ja, aber nicht begriffen.«
»Das ist nicht schlimm.« Der Antwort folgte ein kurzes Lachen.
»Du brauchst nichts zu begreifen. Du und auch nicht die beiden anderen. Ich könnte dich jetzt töten, doch ich will etwas anderes. Ich möchte eine Einladung aussprechen. An dich und an deine beiden Freunde. Ihr wart ja so unzertrennlich damals. Bestimmt erinnerst du dich daran. Wenn nicht, kannst du deine beiden Freunde fragen. Sie leben und sind noch sehr munter, wovon ich mich mit meinen eigenen Augen habe überzeugen können. Setz dich mit ihnen in Verbindung.«
»Das werde ich tun. Und dann?«
»Kommt ihr an eine bestimmte Stelle.«
»Wohin?«
Jetzt ließ der Unsichtbare ein leises Lachen hören. »Ihr kennt das Gasthaus sehr gut. Bis vor drei Jahren habt ihr euch dort regelmäßig getroffen. Es war euer Stammtisch. Das Gasthaus ist geschlossen, ihr aber sollt euch noch einmal dort treffen. Und zwar am Stammtisch des Henkers. Kommt in zwei Tagen dorthin. Um zwanzig Uhr werdet ihr euch dort versammeln. Der runde Tisch, an dem ihr immer gesessen habt, existiert noch. Ich warte dort auf euch. Und hütet euch, nicht zu erscheinen.«
»Was passiert dann?«
»Blut würde fließen. Damit du siehst, dass ich nicht bluffe, werde ich eine Spur hinterlassen, die du nie in deinem Leben vergessen wirst. Denk daran, übermorgen um zwanzig Uhr.«
Nach dem letzten Wort verschwand der kalte Druck in Thompsons Nacken. Der Mann stellte sich aufrecht hin. Er tat es langsam, weil sein Rücken vom Bücken schmerzte.
Dann drehte er sich um.
Nichts war zu sehen, kein Henker, kein Schwert, und im nächsten Augenblick flackerte auch die Lampe an der Decke. Wenig später war es so hell, dass Leroy die Augen schließen musste.
Er fühlte sich mies. Schwindel hielt ihn gepackt. Auf seinem Gesicht lag der Schweiß. Das Herz hämmerte und pochte stark. In seinen Knien hatte sich eine selten gekannte Weichheit festgesetzt, und als er sich drehte, wobei er einen Blick in den Spiegel warf, erschrak er über sich selbst. Leroy hatte das Gefühl, einen Fremden zu sehen, so sehr hatte er sich in den vergangenen Minuten verändert.
Seine Haut war grau geworden, der Blick war starr, stumpf und leer. Er zitterte. Es war deutlich zu sehen, als er eine Hand hob und damit über sein weißes Haar strich.
Sie hatten ihn voll erwischt.
Wie ein Betrunkener wankte er vor, um sich an einer Kante des Waschbeckens abzustützen. Dort blieb er stehen, beugte seinen Oberkörper vor und starrte in den Spiegel.
Nur allmählich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Doch sie wirkte unnatürlich. So rot glühten seine Wangen, als hätte man sie angestrichen.
Er zitterte. Sogar in den Schultern spürte er die Spannung. Zu allem Überfluss rebellierte sein Magen.
Hatte er das alles nur geträumt?
Nein, das war kein Traum gewesen. Er hatte die Gestalt des Henkers zwar nicht gesehen, aber es war jemand hinter ihm gewesen, der mit ihm geredet hatte. Und zwar der Henker. Ja, diese schreckliche Gestalt, die er sehr gut aus seiner großen Zeit in Indien kannte.
Der Henker.
Er schüttelte sich, als er daran dachte. Schon damals hatte diese Person nicht gerade zu seinen Freunden gezählt, aber sie hatten sie gebraucht, um Ordnung zu halten, und die drei, die sich die Macht teilten, hatten dies genossen.
Aber Indien war vorbei, lag Jahre zurück. Das Land stand nicht mehr unter britischer Besatzung. Die Sünden der Kolonialzeit verblassten allmählich, aber sie hatten ihn eingeholt.
Das konnte er nicht fassen.
Leroy Thompson räusperte sich. Seine rechte Hand rutschte in die Tasche, wo das Etui mit den Zigaretten steckte. Er holte es hervor, klappte es auf und bemerkte, dass seine Finger zitterten, als er sich ein Stäbchen nahm.
Kaum steckte es glimmend zwischen seinen Lippen, als er Schritte hörte, zusammenzuckte und einen Augenblick später die Tür aufgestoßen wurde. Einer der Verlobungsgäste stand auf der Schwelle.
Leroy Thompson kannte ihn nicht. Der junge Mann gehörte zu Marys Studentenclique, war modisch lässig gekleidet und hatte in sein dunkles Haar Gel geschmiert.
»Geht es Ihnen nicht gut, Sir?«, fragte er, als er
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