0412 - Wo Canaro wütet
wie eine Pistole. Das ist alles. Es besteht keine Gefahr.«
Die Beamtin schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ihre Widerstandsfähigkeit war größer als die der Frau, welcher Sibyl das Flugticket abgenommen hatte.
Sibyl wiederholte die Worte noch zweimal. Jedesmal, wenn die untersuchende Sicherheitsbeamtin widersprechen und eine Anweisung geben wollte, unterbrach Sibyl sie und suggerierte ihr den verharmlosenden Text ein. Als sie dann ihre Reisetasche an sich nahm, die leicht genug war, um als Handgepäck zu gelten, erhob die Beamtin keinen Widerspruch.
Eine halbe Stunde später blieb New York hinter der startenden Boeing 747 zurück. Durch das Fenster, an dem ihr Sitzplatz lag, sah Sibyl Darrow die Freiheitsstatue in der Ferne verschwinden. Sie wurde kleiner und kleiner, verschwamm in einem nebelhaften Grau und war dann nicht mehr zu sehen.
Bis jetzt hatte es keine Schwierigkeiten gegeben. Sibyl begriff nicht so recht, wie das alles vonstatten gegangen war. Sie hatte einfach jemanden um das Ticket gebeten und es bekommen, einfach so! Und jetzt war sie bereits über dem Atlantik.
Der Flug kostete sie keinen Cent!
Tief atmete sie durch.
Vielleicht würde Professor Zamorra auch dafür eine Erklärung wissen. Sie hoffte es. Er mußte ihr helfen, ehe sie über diese unverständlichen Ereignisse den Verstand verlor.
Immerhin war sie auf dem Weg zu ihm. Die größte Hürde, den Flug, hatte sie geschafft. Alles weitere würde einfacher sein.
Professor Zamorra, hilf mir! Ich komme zu dir, bin gleich da…
Jaaahhh…, dehnte die Stimme in ihr.
***
Der perlmuttweiße BMW 635 CSi schraubte sich die Serpentinenstraße zum Château Montagne hinauf. Die Fenster waren geschlossen, die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren gegen die drückende Sommerhitze an.
Fast fürchtete Zamorra den Moment des Aussteigens, wenn die Hitze wie ein Fausthieb über ihnen zusammenschlagen würde.
Die Luft flimmerte.
Nur unten im Tal, am Loire-Ufer, war es etwas erträglicher. Der breite Wasserstrom kühlte auch die Luft ein wenig ab. Auch wenn es nur zwei oder drei Grad waren, machte das schon viel aus. Der Parapsychologe spielte mit dem Gedanken, lediglich die Koffer im Château auszuladen, eine Getränkekühlbox, gut gefüllt, mitzunehmen und wieder zum Fluß zurückzufahren. Noch gab es ein paar verträumte Uferwinkel, in die man sich ungestört zurückziehen und träumen konnte. Aber wie lange noch?
»Hoffentlich haben wir jetzt ein paar Tage Ruhe«, sagte Nicole Duval. Sie saß bequem zurückgelehnt hinter dem Volant des Wagens, dirigierte das Lenkrad souverän mit einer Hand und trieb das schnelle Coupé hangaufwärts. »Verdient haben wir sie uns, nach dem Streß.«
»Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten rund sechstausend Jahre Zeit bekommen, uns zu erholen«, erinnerte sich Zamorra an das nur zwei Tage zurückliegende Abenteuer am Bodensee.
Vergangenheit und Gegenwart hatten sich berührt, Steinzeit und Moderne. Und um ein Haar wären sie beide in der Steinzeit-Sphäre zurückgeblieben, hätten sie die Rückkehr in die Gegenwart nicht mehr geschafft. Dann wären sie jetzt nicht wieder auf dem Weg nach Hause, sondern sechstausend Jahre zurück in der Vergangenheit in einem Pfahlbaudorf am Nordufer des Bodensees…
Aber sie hatten es geschafft. Und die Maschine der DYNASTIE DER EWIGEN, die für die Zeitüberlappung verantwortlich war, war vernichtet worden. Es würde keine weiteren Vorfälle dieser Art mehr geben…
Das am Hang liegende Château war von einer Schutzmauer und einem Graben umgeben. Der BMW rumpelte über die uralte, hölzerne Zugbrücke, die auch heute noch hochgezogen werden konnte. Der ›Burghof‹ war leer. Zamorra hob die Brauen. Er sah die Gerüste am Haupttrakt des Châteaus, aber niemanden, der daran arbeitete. Dabei waren die Restaurationsarbeiten, die nach der dämonischen Teilzerstörung des Gebäudes notwendig waren, noch längst nicht abgeschlossen.
Nicole parkte den Wagen im Schatten und schaltete den Motor ab. Vorsichtig öffnete sie die Tür.
Ein Hitzeschwall drang herein.
»Wir werden es nicht umgehen können«, murmelte Zamorra und stieg aus. Vom linken Seitenflügel, den sie während der Restaurierungsarbeiten bewohnten, näherte sich Raffael Bois, der alte, zuverlässige Diener. Natürlich – ihm hatte die Ankunft Zamorras nicht entgehen können. Manchmal fragte Zamorra sich, ob Raffael ein Hellseher war. Zu welcher Tageszeit auch immer er gebraucht
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