0412 - Wo Canaro wütet
niemanden, den sie fragen konnte. Sie konnte nicht darauf bauen, daß andere Mitreisende in diesem Zug ihr Amerikanisch verstanden, das durch ländlichen Slang zusätzlich verkompliziert wurde. Und sie konnte auch das Zugpersonal nicht fragen. Sie wollte das Risiko nicht eingehen, nach ihrer Fahrkarte gefragt zu werden – sie hatte keine. Sie war einfach eingestiegen.
Sie wußte, daß es nicht gut war. Eine weitere Art von Diebstahl – diesmal nicht an einer Einzelperson, sondern an der französischen Eisenbahn. Warum habe ich das getan? fragte sie sich. Sie war sicher, daß die Dollars, die sie mit sich führte, für die Fahrkarte gereicht hätten. Es gab Wechselstuben, in denen man sie auch beraten hätte. Aber sie hatte es nicht getan. Weshalb nicht? fragte sie sich in wachsender Verzweiflung.
Weil du dumm wärest, die Fähigkeiten nicht zu nutzen, die du entwickelst!
Sie schluckte heftig.
Sie tat Dinge, die ihr früher niemals in den Sinn gekommen wären. Dinge, die sie als unmoralisch verachtete.
Moral ist nur etwas für Dumme. Gib dich nicht damit ab… Es gibt Wichtigeres!
Aber sie war sich nicht sicher.
Sie hatte Angst vor dem, was sie noch tun würde…
Tun mußte…?
***
»Verrückt«, sagte Zamorra kopfschüttelnd und sah hinter Raffael Bois her, der ihre durchnäßten Kleider fortbrachte, nachdem er auf einem kleinen Rolltisch Getränke und einen liebevoll zusammengestellten Imbiß herangeschafft hatte. »Das mußte doch wahrlich nicht sein, Nici…«
Sie sah ihn aus lachenden Augen an. »Da magst du recht haben, Cherie… aber es hat erfrischt nach diesem Hitze-Schlag, oder willst du das nicht zugeben?«
»Sicher. Aber du hättest warten können, bis wir ausgezogen waren… jetzt sind die Sachen ruiniert.«
»Was naß ist, trocknet wieder und läßt sich aufbügeln«, versicherte Nicole. »Was soll’s also?«
Zamorra seufzte. Er mochte Nicoles kleine Verrücktheiten, mit denen sie ihn immer wieder überraschte. Sonst wären sie beide nicht schon so lange Zeit zusammen, auf einer gemeinsamen Basis, die Kameradschaft, absolute Zuverlässigkeit und blindes Vertrauen beinhaltete wie grenzenloses Verstehen, Zärtlichkeit, Leidenschaft und bedingungslose, tiefgehende Liebe.
Die Wassertropfen auf der Haut trockneten weg, bevor sie Brennglas-Effekt erzeugen konnten.
»Unglaublich, dieser Sommer«, murmelte Zamorra. »So was erleben wir sonst doch nur in Äquatornähe oder unten in Australien… daß die Hitzeperiode so lange anhält, ist schon fantastisch…«
»Die Waldbrände weniger… hoffentlich geht es hier nicht auch demnächst los«, unkte Nicole. »Vorläufig haben wir hier ja noch Ruhe…«
»Ruhe«, wiederholte Zamorra langsam. »Aber wahrscheinlich nicht für lange.«
»Wie meinst du das?« Sie richtete sich halb von dem Liegestuhl auf, in welchem sie sich in reizvoller Pose niedergelassen hatte, der Wirkung ihres schönen Körpers auf Zamorra wohl bewußt. »Hast du vielleicht schon wieder irgend jemandem ein Versprechen gegeben…?«
»Nein. Ich habe keine Pflichten an mich gerissen, von denen du nichts wüßtest«, erwiderte er und lächelte.
»Aber es gibt trotzdem noch ein paar unerledigte Dinge.«
»Ja. Mich zu Beispiel«, sagte sie. Sie wechselte zu ihm herüber. Sein Liegestuhl hielt der doppelten Belastung mühelos stand. Nicole küßte Zamorra, dann entwand sie sich seinem Griff und füllte zwei Gläser mit einem erfrischenden Fruchtsaftgetränk.
»Ja, dich auch, Nici… aber darum werde ich mich so schnell wie möglich kümmern«, kündigte Zamorra schmunzelnd an. »Nein, da gibt’s noch andere offene Probleme. Die Wunderwelten und der Silbermond zum Beispiel…«
»…die es nicht mehr gibt…«
»…aber in der Vergangenheit gab, und in dieser Vergangenheit haben wir sie kennengelernt und sind vor ein bisher ungelöstes Rätsel gestellt worden.«
»Vor zwei Rätsel«, verbesserte Nicole. »Erstens wissen wir immer noch nicht, wie Rob Tendyke uns durch Raum und Zeit hierher zurückgeholt hat, weil er sich zu diesem Thema in beharrliches Schweigen hüllt, und zum anderen ist da jener MÄCHTIGE, der dich von früher her zu kennen schien, wenngleich du chronologisch betrachtet niemals einem dieser MÄCHTIGEN begegnet bist«, erriet sie seine Gedanken. »Und du meinst, daß wir versuchen sollten, diesem Rätsel nachzugehen?«
»Ich mag offene Fragen nicht«, gestand Zamorra. »Seit damals habe ich ein ganz eigenartiges Gefühl. Ich weiß, daß wir noch einmal
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