0412 - Wo Canaro wütet
nur froh, daß sie nicht gezwungen gewesen war, die unheimliche Macht anzuwenden. Das war das letzte, was sie wollte.
Liebe ließ sich nicht kaufen und nicht erzwingen. Und außerdem würde es zwecklos sein. Es würde nur Unglück über eine junge Familie bringen, wenn sie sich dazwischendrängte. Es war besser, wenn sie Pascal Lafitte vergaß.
Was kümmert dich das Unglück anderer Menschen? raunte es boshaft in ihr. Die anderen sind unwichtig. Es geht um dich! Du willst diesen Mann doch! Also nimm ihn dir! Und wer sagt dir, daß seine Frau etwas erfahren muß? Du bist ihr keine Rechenschaft schuldig!
»Nein«, keuchte sie. »Ich will es nicht! Halte dich da raus!«
Warum? Warum willst du dich unglücklich machen? Du weißt doch, daß du keine Ruhe finden wirst, ehe du diesen Mann geküßt hast. Also benutze deine Fähigkeiten.
»Geh raus aus meinem Kopf!« rief sie verzweifelt. »Geh, laß mich in Ruhe!«
Ich lasse dich nicht in dein Unglück rennen. Ich will nur dein Bestes! Ich will, daß du mächtig und unsterblich wirst…
»Wer bist du?«
Aber es kam keine Antwort mehr. Die Stimme verfiel in Schweigen.
Sibyl erhob sich. Sie erfrischte sich und kleidete sich um. Die durchgeschwitzte Reisekleidung warf sie ins Waschbecken. Dann ging sie nach unten in die Gaststube. Pierre Mostache hörte ihre Schritte auf der Treppe und schlurfte aus der Küche heran.
Sie kratzte ihre wenigen Brocken Französisch zusammen, die sie aufgeschnappt hatte, und machte ihm klar, daß sie telefonieren wollte. Das war schwieriger, als das Zimmer zu bekommen. Zumal sie auch noch die Rufnummer benötigte, die jener Colonel Sparks nicht auf der Visitenkarte vermerkt hatte…
Aber schließlich begriff Mostache, daß sie mit Zamorra telefonieren wollte, wählte für sie und drückte ihr dann freundlich grinsend den Hörer in die Hand. Diskret zog er sich zurück. Er verstand zwar kaum etwas von dem, was sie redete, weil er nie Fremdsprachen gelernt hatte – wer etwas von ihm wollte, sollte sich gefälligst seiner Sprache bedienen – aber er wollte dem hübschen Mädchen nicht den Eindruck vermitteln, sie belauschen zu wollen.
»Château Montagne, Bois«, meldete sich eine Männerstimme.
Im ersten Moment war sie enttäuscht. Sie hatte irgendwie damit gerechnet, daß Zamorra sich selbst meldete. »Professor Zamorra, bitte«, stieß sie aufgeregt hervor. »Ich möchte mit Professor Zamorra sprechen. Ist das richtig?«
Der Unbekannte wechselte sofort auf Englisch, das er mit einem weichen, näselnden Akzent sprach. »Das ist im Moment schwierig, Miß. Der Professor möchte nicht gestört werden. Worum handelt es sich? Kann ich etwas ausrichten, soll er Sie zurückrufen, oder…«
»Es ist wichtig«, stieß sie hervor. »Ich… ich glaube, ich habe nicht viel Zeit. Ich bin Amerikanerin, und…«
»Pardon, Miß. Ein Auslandsgespräch… warten Sie bitte. Ich versuche, Professor Zamorra zu erreichen. Legen Sie nicht auf.«
Es dauerte eine Weile. Sie vernahm Hintergrundgeräusche. Dann: »Sind Sie noch dran, Miß? Der Professor kommt sofort. Einen Moment noch.«
Dann klickte es. Und sie vernahm die Stimme des Parapsychologen.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Professor«, sprudelte sie hervor. »Ich habe Ihre Adresse von einem Ihrer Kollegen, und ich bin sicher, daß nur Sie mir helfen können. Ich…«
»Mal langsam«, wehrte Zamorra ab. »Ich habe vorhin Ihren Namen nicht verstanden…«
Da erkannte sie, daß sie sich noch nicht einmal vorgestellt hatte, und holte das Versäumte nach. »Ich werde allein nicht mehr damit fertig. Da ist eine Stimme in mir… Träume… ein schreckliches Erlebnis…«
»Und was habe ich damit zu tun?« Seine Stimme klang etwas verdrossen.
»Bitte. Sie sind doch Dämonenjäger. Sie… Sie müssen mir helfen.« Wie oft hatte sie diesen Satz schon gedacht und ausgesprochen? Sie wußte es nicht mehr…
»Sie stellen sich das so einfach vor«, erwiderte Zamorra. »Glauben Sie im Ernst, ich könnte mal eben von einer Minute zur anderen in die USA fliegen?«
»Ich bin nicht in den USA. Ich bin ganz in Ihrer Nähe. In Mister Mostaches Gasthaus…«
»Ach du ahnst es nicht!« entfuhr es Zamorra. »Und ich dachte, es sei ein Auslandsgespräch… Nun gut. Was also wollen Sie konkret?«
»Befreien Sie mich von den Alpträumen, von dieser Stimme in mir, von dem Unheimlichen… bitte!« Sie schrie es fast.
Du bist ja verrückt! gellte es in ihr auf, und im nächsten Moment knallte sie den Hörer auf die
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