0412 - Wo Canaro wütet
aus dem Dorf würden später eintreffen. Viele kamen erst abends aus den umliegenden Städten von der Arbeit, andere hatten auf den Feldern und in den Weinbergen zu tun. Daß Mostache seine Tür den ganzen Tag über geöffnet hatte, war weniger einer besucherfreundlichen Öffnungszeit zu verdanken, als der Tatsache, daß er keine Lust hatte, abzuschließen. Und zuweilen – so wie heute – verirrte sich ja auch einmal ein Pensionsgast in dieses kleine Dorf, oder jemand, der Zamorra besuchen wollte. Oder der Posthalter kam herüber, um nach der schweißtreibenden Schwerarbeit, zwei oder drei Briefe auszutragen, ein Erfrischungsschnäpschen oder einen Schoppen Rotwein zu trinken.
Sibyl war das alles herzlich gleichgültig.
Sie trank den fünften Cognac.
Mostache, der nach dem recht seltsam verlaufenen Telefonat und Sibyls verzweifeltem Gesichtsausdruck der Ansicht gewesen war, sie könnte einen Cognac vertragen, sah es mit allmählich wachsender Besorgnis. Ihm war auf den ersten fachmännischen Blick klar, daß das Mädchen aus Amerika den Alkohol nicht vertrug. Hinzu kam die Hitze, die auch vor der Gaststube nicht halt machte, trotz Ventilator. Aber Sibyl Darrow hatte einen großen Dollarschein auf den Tisch gelegt, und Mostache brauchte keinen Taschenrechner, um festzustellen, daß dieser Schein groß genug war, die ganze Flasche zu bezahlen.
Sibyl bestellte den sechsten Cognac.
Sie wollte vergessen und verdrängen. Sie war müde, aber sie wußte, sie würde nicht schlafen können. Nicht jetzt…
Aber sie war verzweifelt. Sie wollte Ruhe. Sie ertränkte alles im Alkohol. Daß das keine Lösung war, daß sie am nächsten Tag lediglich ihre Probleme um das eines gewaltigen Brummschädels vergrößert sehen würde, bedachte sie nicht. Auch etwas, das sie nicht interessierte.
Der Unheimliche in ihr hatte sie gezwungen, das Gespräch zu beenden… er wollte nicht, daß sie sich von Zamorra helfen ließ! Warum hatte er dann forciert, daß sie hierher gelangte? Welche Pläne verfolgte er?
Nicht mehr denken! Nicht mehr grübeln! Verdrängen.
Mostache brachte Cognac Nr. 6. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Sie sah es durch einen seltsamen Nebelschleier, aber es berührte sie nicht. Sie trank langsam und genußvoll.
Sie glaubte auf Wolken zu schweben. Eine eigenartige Leichtigkeit erfaßte sie. Alles war so einfach, so…
Sie konnte sich selbst damit betäuben.
Aber nicht den Dämonischen, der Besitz von ihrem Körper und teilweise ihrem Geist ergriffen hatte.
Der wartete!
Sibyl, die von ihm eingelullte, war kaum mehr als Mittel zum Zweck.
Langdon Gray, der Hexen- und Dämonenjäger, war tot. Aber er war nur einer von vielen.
Ein anderer war Professor Zamorra.
Auf ihn wartete der Dämon…
***
Pascal Lafitte ging zur Gaststätte hinüber. Das waren gerade mal hundertfünfzig oder etwas mehr Meter. Da lohnte es sich nicht, den Wagen zu benutzen. Wenn es sich tatsächlich so ergeben sollte, daß er die Amerikanerin zum Château fuhr, konnten sie immer noch zu Fuß wieder zum Wagen zurückkehren. Und wenn die Fahrt nicht zustandekam, stand der Cadillac gerade richtig vor dem Haus, um die für den Grillabend am Loire-Ufer nötigen Sachen einzupacken, die Nadine gerade zusammenstellte. Sobald er zurückkam, wollten sie aufbrechen. Zamorra und Nicole kannten den Weg ja nur zu gut…
Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, daß Pascal die Fremde unter Umständen zum Château hinauf fuhr. Auf der kurzen Strecke, fand sie, konnte nichts passieren. Und im Château gab’s genug Tugendhüter… außerdem liebte Pascal sie, und er würde ihr kaum untreu werden. Dessen war sie sicher.
»Eine Amerikanerin«, hatte sie nur gesagt. »Hm… und diese beiden Zeitungsartikel, die du Zamorra vorhin gezeigt hast, handelten von Ereignissen in Amerika?«
»Du meinst, es könnte einen Zusammenhang geben?« hatte er gestaunt.
Nadine zuckte nur mit den Schultern. »Es ist eigentlich unwahrscheinlich… aber wenn es zwischen den beiden Meldungen eine Verbindung gibt, warum dann nicht auch zu dieser Frau? Warum soll das eine weniger fantastisch sein als das andere? Was hat denn Zamorra überhaupt gesagt?«
»Der Herr geruhten den Daumen nach unten zu senken. Er glaubt nicht dran. Da habe ich mich mal wunderschön für die Katz’ engagiert…«
»Sauer, Pascal? Es hätte ja auch genauso anders sein können…« Sie küßte ihn. »Sei ihm nicht böse. Es ist ja wirklich etwas weit hergeholt…«
»Ich bin mir inzwischen selbst
Weitere Kostenlose Bücher