0418 - Das Richtschwert der Templer
Seine Aufgabe setzte ihn viel zu sehr unter Druck.
Ich dachte darüber nach, wer der Tote im Sarg war. Vielleicht wußte Jorge Bescheid. Unter Umständen hatte ihn Samaran eingeweiht.
»Wer ist das im Sarg?« fragte ich ihn. Meine Stimme hallte dumpf durch die unheimliche Gruft.
Jorge hob den Kopf an. »Du weißt es nicht?«
»Nein.«
»Lome Stanhope, der Bruder von Gordon. Er hatte sich mit den Mönchen gut verstanden und ihnen das Versprechen abgenommen, ihn nach seinem Tod als Mumie zu begraben. Er wollte einbalsamiert werden. Wahrscheinlich ist er unter den Binden noch erhalten. Reicht dir das, Bulle?«
»Sicher.«
»Okay, dann kannst du ja zusehen, wie ich die Waffe an mich nehme. Genieße die letzten Minuten deines Lebens.«
Diese Bemerkung brachte mich dazu, wieder einen Blick auf das Zifferblatt des Höllenweckers zu werfen.
Noch 19 Minuten bis zu meinem Ende!
Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit Vorwürfen zu beschäftigen. Jorge nämlich bewegte sich und streckte die Arme aus. Er benötigte beide Hände, um die schwere Waffe hochhieven zu können.
Kaum hatte er den Griff berührt, als eine gewaltige Stimme durch die Gruft donnerte.
»Neiiinnnn!«
Ich schaute auf die Uhr.
Noch 18 Minuten bis zu meinem Tod!
***
Das Geschehen nahm plötzlich eine dramatische Wendung. Jorge hatte die Stimme natürlich auch gehört. Er war einen blitzschnellen Schritt zurückgewichen, ohne das Richtschwert von der Leiche zu nehmen. Den Kopf hatte er nach rechts gedreht, und er blickte dabei genau in die Richtung, in der ich den Schatten gesehen hatte.
Jetzt war er wieder da.
Und er bewegte sich abermals. Sehr vorsichtig drang er in die Gruft hinein, nahm menschliche Umrisse an und wurde selbst zu einem Menschen, der mir einen Schrecken einjagte.
Er war alt, eigentlich schon tot und trug die Kutte eines Mönchs.
Staubbedeckt war das Kleidungsstück, gleichzeitig übersät mit Spinnweben, die im fahlen Licht der Gruft silbrig glänzten.
Sein Gesicht konnte ich aus meiner Sichtperspektive nicht erkennen. Zudem hatte er den Kopf gesenkt, es lag gewissermaßen im Schatten. Ich konnte mir jedoch vorstellen, daß es sich dabei um eine alte, halbverweste Leichenfratze handelte, sonst hätte Jorge vor der Gestalt nicht eine so große Furcht gezeigt.
Der Bewacher hatte die Kapuze der Kutte über den Kopf gestreift. Daß er sich Jorge als Ziel ausgesucht hatte, lag auf der Hand.
Wer dieser alte Mönch war, wußte ich nicht. Ich rechnete damit, daß man ihn als Wächter des Richtschwerts ausgesucht hatte.
Und er griff danach.
Aus dem Ärmel erschien schlangengleich eine Klauenhand mit langen Fingern, die den Griff umspannen wollten. Dazu jedoch kam es nicht. Jorge hatte seinen ersten Schreck überwunden und griff den Mönch an. Er verließ sich dabei auf seine heimtückische Waffe, mit der er auch mich hatte umbringen wollen.
Beinahe grenzte es schon an Zauberei, so schnell holte er die Seidenschlinge hervor. Er mußte mehrere davon besitzen, hielt sie straff gespannt zwischen beiden Händen und sprang so auf den alten Mönch zu.
Wie ein Schatten huschte die Schlinge am Gesicht des Sargwächters vorbei und schnitt im nächsten Moment in seinen Hals. Einen Lidschlag später riß Jorge den Mönch schon zurück und zu sich heran, während er die beiden Enden der Schlinge im Nacken über Kreuz zusammenführte.
»Dich bringe ich um!« keuchte er. »Du verdammter…« Die letzten Worte gingen in einem unverständlichen Gemurmel unter.
Mir war klar, daß es sich in den folgenden Sekunden entscheiden würde, ob Jorge es mit einem Untoten oder mit einem Menschen zu tun hatte.
Beides war möglich.
Es war ein Zombie!
Er drehte sich herum, obwohl die Seidenschlinge in seinen Hals schnitt, und er stieß seine Totenklauen wie Lanzenspitzen in das Gesicht des Rothaarigen.
Der schrie auf. Zumindest mußte eines seiner beiden Augen getroffen worden sein. Plötzlich war er so gut wieblind, löste eine Hand von der Schlinge, um sich durch einen Rammstoß den Wächter vom Hals zu halten. Das schaffte er nur halb. Der Zombie fiel zurück, er riß den anderen dabei mit, und die Kapuze rutschte von seinem Schädel.
Ich sah einen kahlen Kopf und für einen Moment auch das vertrocknet wirkende Gesicht. Dem Zombie gelang es, mit einer Hand in den offenen Sarg zu fassen und das Schwert an sich zu reißen.
Jorge war durch die Gestalt des Mönchs die Sicht genommen worden. Er blickte erst auf, als der andere die Klinge
Weitere Kostenlose Bücher