0418 - Die Waldhexe
Schraube nur noch schneller rotieren lassen würde. Es mußte ein Prozeß des Umdenkens erfolgen -weltweit.
Aber das brauchte leider seine Zeit…
Nicole preßte die Lippen zusammen. Was hier geschah, gefiel ihr nicht, aber sie wußte, daß sie allein nichts dagegen unternehmen konnte. Das Schlimme war, daß auch die Holzfäller und die vordringenden, brennenden Siedler im Recht waren!
Sie kämpften doch nur um ihr Überleben!
Nicole erreichte schließlich die ersten Häuser eines kleinen Dorfes. Am Dorfrand stoppte sie den Wagen ab. Sie war immer noch nicht müde, aber sie fühlte sich von der endlos langen Fahrt wie gerädert. Stunde um Stunde war sie unterwegs gewesen, die ganze Nacht. Die Dunkelheit war ihre Domäne. Jetzt war der Tag da, und am Himmel begann die Tropensonne wieder heiß zu brennen.
Sie preßte die Lippen zusammen und spürte wieder die spitzen Vampirzähne. Eine Ansiedlung - das war genau das, was sie nicht gewollt hätte.
Sie war froh, daß es jetzt Tag war. Da war der Drang nach Blut nicht so stark. Sie konnte ihn noch bezwingen.
Vielleicht konnte sie ein Gasthaus finden und ein Zimmer mieten, in dem sie sich ein wenig von der Fahrt ausruhte. In einem bequemen holperigen Bett liegen, anstatt sich die Wirbelsäule von der Straße zerrüttein zu lassen… Wenigstens hatte sie Ruhe vor den Moskitos. Die stechenden Biester, überhaupt alle Insekten, mieden Nicole. Sie schienen zu wittern, daß sie Nicoles Blut nicht vertragen würden…
Das war der einzige Vorteil gewesen.
Sie ließ den Wagen am Dorfrand stehen und ging ein paar Schritte. Es tat nach der langen Höllenfahrt gut, die Beine zu bewegen. Sie dachte an Zamorra. Würde er sie hier finden können?
Immer noch schirmte sie sich sorgfältig gegen ihn ab, hielt die Aura ihrer Seele so fest, daß sie nicht über die Grenzen ihres Körpers hinaus gespürt werden konnte, und dachte sich weiter nichts dabei.
Sie näherte sich der Bodega…
***
Silvana, die Hexe, hatte ihre kleine Hütte im Wald verlassen. Seit Garifo gegangen war, erschien diese Hütte ihr leer, dabei hatte sie früher lange allein darin gewohnt und sich niemals Gesellschaft gewünscht.
Aber dieser jungenhaft fröhliche Bursche, den sie vor ein paar Wochen eher zufällig in Brasilia kennengelernt hatte und der sie dann plötzlich hier besuchte, hatte eine andere Art Leben in die Hütte gebracht.
Er war so sehr verbunden mit der Natur, wie Silvana es sich immer erträumt hatte. Warum konnten die anderen Menschen nicht so sein wie er?
Sie ahnte, daß ein Band zwischen ihnen zerrissen war. Daß sie Zoro getötet hatte, paßte nicht in sein Denkschema. Er hatte andere Moralvorstellungen. Für sie aber war alles recht, wenn sie nur ihren Wald retten konnte.
Der Bereich, der als nächster zur Brandrodung anstand, war Teil ihres Lebens. Sie hatte es nie ergründen können, warum das so war. Aber wenn sie längere Zeit fort war, wurde sie krank. Sie hatte es vor langen Jahren gespürt.
Sie mußte hier bleiben. Sie hatte damals nur überlebt, weil sie schließlich begriffen hatte, wo ihre Welt war, und war aus der Fremde heimgekehrt. Danach blühte sie wieder auf.
Sie, der Mensch, brauchte ihn, den Wald. Sie brauchte ihn, um atmen zu können, um leben zu können. Sie brauchte das Echo des Waldes, wenn sie lachte und weinte, liebte und haßte.
Es gab keine Erklärung. Selbst mit ihrem gewaltigen Wissen, das sie besaß, nicht.
Garifo hatte mit ihr gelebt. Er und dieser zottige, graue Wolf, von dem Garifo behauptete, er stamme aus den Weiten Sibiriens. Aber Garifo war mit ihrer Art, sich zu wehren, nicht einverstanden. Er akzeptierte nicht, daß gegen die Gewalt der Axt und des Feuers nur die Gegengewalt zauberischer Kraft gesetzt werden konnte; daß sie töten mußte, um zu überleben und sich vor zu früher Entdeckung zu schützen.
Von nun an war sie wieder auf sich allein gestellt. Es war wieder wie früher. Und sie konnte nur hoffen, daß Garifo jetzt neutral blieb. Wenn er sich gegen sie stellte, wußte sie nicht, was sie tun sollte. Sie hatte ihn zwar gewarnt. Aber sie konnte doch nicht gegen einen Menschen vorgehen, der der Natur ähnlich verbunden war wie sie selbst!
Das ging doch nicht…
Sie verließ ihren Wald und kam zum Dorf. Sie kannte sich dort aus, war schon einige Male hier gewesen. Sie hatte der Zivilisation nicht entsagt. Sie besaß im Nachbarort eine kleine Wohnung, und eine weitere in Porte Velho, der Hafen- und Flughafenstadt am Rio Madeira.
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