042 - Die Unsterblichen
geriet.
Doch die Opfer hatten sich gelohnt. Seitdem sie die Stadt und die angrenzenden Territorien für sich beanspruchten, lebten sie vergleichsweise sicher. Ein umfangreiches Kamerasystem, das die Stadt umgab, bewahrte sie von unerwünschten Besuchern, die versuchten, in die maroden Ruinen einzusickern.
Fünf Schneeschlitten schossen aus der Tiefgarage und fuhren in die Stadt davon. Wachablösung. Sie waren schon längst keine Wissenschaftler mehr, sondern auch Soldaten, Händler und Politiker - alles in einem. Gut dreihundert Menschen, alles ehemalige Forscher, wissenschaftliche Assistenzen oder Hauspersonal hatten sich hier nach der Katastrophe ein Leben aufgebaut, das sie sich von niemanden mehr nehmen lassen wollten.
Draußen in der Prärie nannte man sie schon Die Unsterblichen, weil sie dem Tod in jeder Form trotzten.
»Es wird Zeit, dass wir Fahrzeuge ohne Verbrennungsmotor konstruieren«, riss Miki sie aus ihren düsteren Gedanken. »In ein paar Jahren gibt es in Amarillo keinen Tropfen Rohöl mehr, den wir noch raffinieren können.« Er streichelte Naoki im Nacken. Sie genoss die zärtliche Berührung, obwohl seine Finger aus Titanium bestanden.
»Wir sollten unsere Expeditionen ausdehnen«, regte sie an. »Vielleicht gibt es noch andere Enklaven des Wissens. In den Regierungsbunkern haben sicher weitere Forscher überlebt, mit denen wir uns austauschen könnten.«
»Die sind in ihren Rattenlöchern längst durchgedreht«, wischte eine knurrige Stimme die Idee beiseite. Sie gehörte Carter, der unbemerkt ins Labor getreten war. Trotz seiner klobigen Stahlbeine bewegte er sich leichtfüßig heran.
»Und falls sie in Washington einen Ausflug an die Oberfläche gemacht haben, wurden sie vermutlich genauso bekloppt wie die Wilden, die unsere Stadt umkreisen«, fuhr er zynisch fort. »Schon vergessen? Ohne die elektronische Verstärkung wären unsere Gehirne längst so löchrig wie Schweizer Käse.«
Naoki schwieg, denn Carter hatte zweifellos Recht. Sie verdankten es einzig und allein seinen Implantaten, dass der geheimnisvolle Degenerationsprozess, unter dem die gesamte Menschheit litt, an ihnen vorübergegangen war. Im Dezember 2011 hatte das Medical Science Center Schlagzeilen gemacht, weil Dr. Liam Carter eine funktionstüchige Speicher- erweiterung in eine menschliche Hirnrinde verpflanzt hatte, die es erlaubte, Erinnerungs- und Merkfähigkeit zu optimieren.
Die wissenschaftliche Sensation ging weltweit in der Hysterie um »Christopher-Floyd« unter, doch weitab von Erdbeben und Flutwellen forschten die Männer und Frauen in Amarillo weiter. Selbst dann noch, als sich der Himmel verdunkelte und die Kälte über das Land hereinbrach. Im Vergleich zu den bevölkerungsreichen Küsten, an denen längst das Chaos regierte, verlief das Leben im mittleren Westen noch lange Zeit in geordneten Bahnen.
Erst nach und nach lösten sich die vorhandenen Strukturen auf - und doch viel schneller, als man es von einer vormals zivilisierten Gesellschaft erwarten konnte. Naoki hatte nur dumpfe Erinnerungen an diese Zeit, in der sich ihre Sinne immer stärker vernebelten. Lediglich Carter und seine Mitarbeiter, die bereits über Memorychips verfügten, erkannten, dass die Degeneration auf den Einfluss der CF-Strahlung zurückzuführen war.
Dank den Implantaten behielten sie ihr altes Wissen. In einem fieberhaften Wettlauf pflanzten sie auch dem übrigen Kollegium Speichererweiterungen ein, um dem Prozess des Vergessens Einhalt zu bieten und sogar rückgängig zu machen.
In schlaflosen Nächten glaubte Naoki immer noch die Narbe an ihrem Hinterkopf zu spüren.
Lange Zeit hatte sie Carter für den Eingriff gehasst, bis sie verstand, dass er nur zu ihrem Besten gehandelt hatte. Obwohl sie ihm Dank schuldete, traute sie ihm nicht mehr recht über den Weg.
Die rücksichtslos Art, mit der er für das Wohl ihrer Gemeinschaft eintrat, zeigte sich auch bei der Säuberung von Amarillo. Hunderte von Wilden wurden dabei getötet, trotzdem mussten ihm die Bewohner des Medical Towers dankbar sein. Naoki fürchtete nur den Tag, an dem ihre Ziele von denen der Gemeinschaft abwichen.
Im Moment ähnelte Dr. Carter aber mehr einem vergnügten Lausbub als einem eiskalten Despoten. Seine künstliche Hand strich über das schüttere Haar, das seinen faltigen Schädel nur noch spärlich bedeckte. Im Gegensatz zu Naoki legte er keinen Wert auf ewige Jugend, sondern strebte einen künstlichen Körper an. Trotzdem war er Manns genug,
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