042 - Die Unsterblichen
hinauf.
»Zurück!«, brüllte er, den blutigen Dorn drohend in die Luft gereckt.
Die Reihen um ihn lichteten sich, doch nicht alle flohen. Einige Verwegene richteten ihre Speere, Pfeile oder Vorderlader auf Aiko. Noch zögerten sie, gegen einen Unsterblichen vorzugehen, doch dem harten Glanz ihrer Augen war anzusehen, dass sie ihn durchaus für verwundbar hielten.
Ehe die Situation eskalieren konnte, schoben sich zwei Rhiffalos durch die Menge. Auf einem von ihnen saß Naoki, die ihre Hände in die Höhe streckte und schrie: »Lasst ihn in Frieden! Er hat nichts mit den Überfällen zu tun!«
Aiko schien nicht sonderlich erfreut über die Unterstützung zu sein.
»Mutter«, knurrte er. »Was machst du denn hier?«
***
Vor zehntausend Jahren enthob die Entwicklung des Ackerbaus die Menschen von dem Zwang, von dem leben zu müssen, was die Natur von sich aus bot. Die Ersatzteilzüchtung könnte uns eines Tages in analoger Weise von den Unzulänglichkeiten unseres eigenen Körpers befreien.
David J. Moony und Antonios G. Mikos, USA
1999
***
Amarillo Medical Science Center, 25. Dezember 2076
Sosehr sich Naoki Tsuyoshi auch bemühte, sie fand einfach keine Ruhe. Aufgeregt marschierte sie zwischen den Labortischen auf und ab. Ihre Gedanken kreisten nur um ein Thema: Hatte Carter wirklich neue Polymere- Grundstoffe aufgetan? Sie hoffte es inständig. Wenn .nicht, war die Arbeit der letzten sechzig Jahre vergeblich gewesen.
Sie blieb vor dem Kristallspiegel stehen, in den sie schon zehntausend Mal geschaut hatte. Sie sah eine junge Frau in weißem Kittel, die kaum älter als ein Teenager wirkte. Nur die braunen Flecken auf ihren Händen ließen Naokis wahren Jahrgang ahnen.
Die Japanerin hatte sich gut gehalten. Durch gesunde Ernährung, aber vor allem dank des Tissue Engineerings, mit dem sich ihr Institut schon lange vor »Christopher-Floyd« beschäftigt hatte. Innere Organe, Knochen, Adern und Nervenstränge - fast alles an Naoki war bereits mehrmals durch im Labor gezüchtete Duplikate ersetzt worden. Bei dieser Gelegenheit hatte sie ihren Körper gleich so modellieren lassen, wie sie ihn sich als junge Frau immer wünschte.
Schlank, attraktiv, begehrenswert.
All das würde sie bald nicht mehr sein.
»Du siehst wunderschön aus«, versicherte Miki, der ahnte, welch düstere Gedanken sie quälten.
Naoki und er kannten sich schon eine halbe Ewigkeit und vertrauten einander.
Er hatte die meisten Operationen an ihr vorgenommen - und sie an ihm. Er meinte es ehrlich, als er fortfuhr: »Es wird schon alles gut gehen.«
Aiko riss sich von den Altersflecken los, die nicht nur ihre Hand, sondern auch den Unterarm bedeckten. Sie bemühte sich um ein Lächeln, doch es fiel gequält aus.
»Ist schon seltsam, ausgerechnet auf Carters Hilfe angewiesen zu sein«, sagte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen. »Wenn es nach ihm ginge, würde sich jeder von uns Arme und Beine amputieren lassen.«
Miki Takeo zog ein grimmiges Gesicht und schnarrte Carters Lieblingssatz: »Fleisch ist vergänglich, Neuroprothesen sind für die Ewigkeit!« Er hatte den Texaner schon so oft parodiert, dass er den Tonfall exakt traf.
Aiko schlug die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten. »Etwas leiser«, bat sie.
»Er hört dich noch.«
Verschämt blickte sie zu der Durchgangstür, die ins Nachbarlabor führte. Carter tat wieder mal sehr geheimnisvoll. Naoki hätte auf die Wir warten aufs Christkind-Dramatik gerne verzichtet, aber da ihr Kollege die fehlenden Grundstoffe für sie aufgetrieben hatte, musste sie ihm auch die Stunde des Triumphes überlassen. Was gab es sonst schon für Abwechslung inmitten dieser Eiswüste, in der die Bevölkerung auf das Stadium von Jägern und Sammlern zurückgefallen war?
Gedankenversunken blickte sie aus dem Fenster. Vom zwanzigsten Stock des Science Tower hatte sie einen guten Blick auf die Stadt, die ausgestorben vor ihr lag. Die leeren Straßen lösten in Naoki sowohl ein Gefühl der Einsamkeit als auch der Sicherheit aus. Mit Schaudern dachte sie an die marodierenden Banden zurück, die immer wieder versucht hatten, das Medical Center zu stürmen - bis Carter zu einem Gegenschlag aufrief. Die Kämpfe dauerten mehrere Wochen, und trotz ihrer überlegenen Bewaffnung erlitten viele Mitglieder ihrer Gemeinschaft Verluste, die nur durch mechanische Prothesen ersetzt werden konnten. Carter führte die Säuberungen persönlich an und büßte beide Beine ein, als er in einen Hinterhalt
Weitere Kostenlose Bücher