0420 - Aibons Schlangenzauber
möchte ich Ihnen noch eine Frage stellen. Sind Sie ein Freund oder ein Feind des roten Ryan?«
»Keines von beiden. Ich stehe ihm neutral gegenüber.«
»Aber mehr Freund.«
»Das kann man sagen. Ich würde ihn nicht unbedingt hassen.«
Sie lachte. »So etwas habe ich mir schon gedacht. Ja, das mußte einfach so sein.«
»Wie… wie meinen Sie das?«
Die Frau lachte girrend. »Es ist etwas kompliziert, Ihnen das zu erklären. Jedenfalls bin ich nicht seine Freundin. Im Gegenteil, ich mag ihn nicht, ich hasse ihn, denn mich hat er verstoßen, mich, seine Schwester Ziana…«
***
Die Frau war die Schwester des roten Ryan!
Das haute mich fast aus den Schuhen. Nein, damit hätte ich nicht im Traum gerechnet. Deshalb hatte sie wohl auch die Melodie gesungen, aus diesem Grunde war ihr so vieles bekannt, was den roten Ryan anging. Sie kannte das Land und war möglicherweise darin geboren. Doch nun befand sie sich in unserer Welt und nicht mehr im Paradies der Druiden. Das mußte einen Grund gehabt haben. Freiwillig verließ man Aibon nicht.
Sie schaute noch immer in den Spiegel. »Überrascht?« erkundigte sie sich.
»Das bin ich.«
Ziana lachte. »Kann ich mir vorstellen. Jetzt werden Sie bestimmt über vieles nachdenken…«
»Und ob.«
»Ich denke darüber nach, wie ich Ihnen die Dinge erklären soll.«
»Das brauchen Sie nicht. Reden Sie einfach. Zudem können Sie bei mir einiges voraussetzen, was Aibon angeht. Ich kenne mich im Paradies der Druiden ein wenig aus.«
»Aber jedes Land hat seine Schattenseiten, das habe ich feststellen müssen, als man mich hinauswarf. Der eigene Bruder hat mich nicht mehr haben wollen. Vielleicht wurdeich ihm zu mächtig. Ja, ich war mächtig, ich habe mich an ihm gerächt. Er hat furchtbar gelitten, und er leidet noch immer. Er hätte mich nicht aus dem Paradies vertreiben sollen. Dafür erhielt er die Quittung.«
»Was haben Sie getan?« fragte ich.
Ziana wirbelte herum. »Das will ich Ihnen genau sagen, John Sinclair. Ich herrsche über die Schlangen des Landes. Ich wuchs mit ihnen auf, sie gehorchten mir, aber die Tiere waren nicht gut angesehen, und ich war es deshalb auch nicht. Man mied mich, man mochte mich nicht. Selbst der eigene Bruder dachte so, aber er hat sich verrechnet, denn er unterschätzte meine Kräfte. Aibons Schlangenfluch traf ihn voll.«
Schon wieder hatte sie den Begriff Schlangenfluch verwendet. Ich konnte damit nichts anfangen. »Sagen Sie mir endlich, was Sie mit Aibons Schlangenfluch gemeint haben?«
Sie lachte. »Ich verfluchte ihn. Der rote Ryan ist nicht mehr der, der er einmal war. Er ist zu einem Mutanten geworden. Zu einer Schlange und zu einem Menschen. Verstehen Sie nun, Sinclair…?«
***
Und ob ich sie verstanden hatte! Meine Augen wurden eng. Okay, der rote Ryan war nicht gerade mein bester Freund. Manchmal reagierte er recht seltsam. Das mußte er wahrscheinlich, da er immer an die Interessen seines Landes dachte, aber dieses Schicksal, von dem mir seine Schwester berichtet hatte, gönnte ich ihm nicht.
»Stimmt das?« fragte ich.
»Ja, ich verfluchte ihn, denn ich besitze die Macht über die Schlangen. Ich kann mit ihnen spielen, sie gehorchen mir. Die Schlangen sind meine besten Freunde. Sie haben mich als ihre Königin akzeptiert. Man stieß mich aus, aber ich nahm die Schlangen mit.« Die Frau deutete auf den Boden, wo sich die giftgrünen Viecher ringelten. »Wenn ich will, werden sie auch die Menschen anfallen.«
Das konnte ich mir gut vorstellen, aber ich wollte nochmehr wissen. »Gut«, sagte ich. »Das muß man akzeptieren, aber Ihr Bruder hat Sie nicht umsonst ausgestoßen. Was haben Sie getan?«
Da lachte sie laut und selbstsicher. »Ich wurde ihm einfach zu mächtig. Ja, ich wollte Macht und das an mich nehmen, was in Aibon wie ein kostbarer Schatz gehütet wird.« Sie lächelte wieder falsch. »Es ist der Dunkle Gral.«
Mein Blick wurde lauernd. »Ich kenne ihn.«
»Das glaube ich. Der Dunkle Gral ist das große Geheimnis Aibons. Er ist das Bindeglied zwischen zwei Welten. Er gehörte mal hierher auf die normale Welt. Es gab eine Zeit, als Kreuzritter sich daran begaben, den Dunklen Gral zu suchen und zu finden. Ein Mann hat es auch geschafft, Hector de Valois besaß ihn. Er wußte einiges über ihn, aber er konnte sein Wissen nicht mehr vervollständigen, weil man ihm den Dunklen Gral wieder abnahm. Erst danach gewann Aibon seine große Macht und auch seine paradiesische Schönheit. Viele leben von ihm.
Weitere Kostenlose Bücher