0426 - Palast der Schattenwürger
festhalten kann. Ich bedeute ihm viel, das weiß ich, obwohl er es mir gegenüber nicht zugegeben hat, aber ich empfinde ihm gegenüber keine Liebe, höchstens Dankbarkeit. Das weiß er. Wir werden immer gute Freunde bleiben, nur kann ich, auf die Dauer gesehen, hier nicht mehr wohnen.«
Ali nickte. »Das habe ich kommen sehen. Aber wirst du denn in London glücklich?«
»Ich will es zumindest versuchen. Wenn nicht, ist hier im Kloster immer ein Platz für mich frei.«
»Da ist auch John Sinclair.«
»Sicher, Ali.«
Den nächsten Satz sprach er wie ein Erwachsener. »Auch John wird andere Frauen gehabt haben.«
»Soll ich ihm deswegen einen Vorwurf machen? Mein Verhältnis zu ihm wird sowieso nicht mehr so sein, wie es einmal in guten Zeiten gewesen ist. Das steht fest. Ich habe immer nach einem plausiblen Grund gesucht, das Kloster zu verlassen. Ich wollte nicht so einfach gehen, es wäre unfair gewesen. Dieser Bericht jedoch hat mir einen Grund gegeben. Es sieht nicht mehr nach einer Flucht aus. Ich habe wieder eine Aufgabe, vielleicht kann ich mein Leben zumindest teilweise so fortführen, wie ich es vor meinem Hexendasein getan habe.«
Ali hob verlegen die Schultern. »Ja, das verstehe ich irgendwie. Ich bleibe aber hier.«
»Das mußt du auch.«
»Weißt du, ich mag John, ich mag Bill und die anderen sehr, aber hier habe ich eine Heimat gefunden, und Yakup ist mir Vater und Bruder zugleich. Ich spüre, daß ich bald soweit sein werde, Verantwortung zu tragen. Er besitzt die Krone der Ninja. Dadurch ist Yakup mächtig geworden, und wenn ich, wie er sagt, reif genug bin, wird er mich auch mal allein lassen und mir die Verantwortung für das Kloster übertragen. Ich habe gute Zukunftsaussichten, Jane.«
Sie stand auf und legte ihre Hände gegen die Wangen des Jungen. »Ali, das ist für dich das beste.«
»Und du willst nach London?«
Jane ließ die Hände sinken. »Ich werde einige Sachen packen und versuche, noch heute zu fliegen.«
»Ohne den anderen zuvor Bescheid zu geben?«
»Manchmal sind überraschende Besuche besser. Ich komme ja nicht mit leeren Händen und kann einen Fall vorweisen. John wird sich bestimmt dafür interessieren. Außerdem kann ich bei einem überraschenden Besuch erkennen, wie willkommen ich ihm tatsächlich bin.«
»Das wird wohl so sein«, sagte Ali.
Jane sah Tränen in den dunklen Augen des Jungen glitzern. »Sei nicht traurig, Ali. Ich hatte nach meinem Abschied von John viel Zeit gehabt, über einiges nachzudenken. Das wußte er auch. Und wir beide werden uns bestimmt nicht aus den Augen verlieren. Die Welt ist klein. Wer auf dem gleichen Gebiet arbeitet, den führen die einzelnen Fälle immer wieder zusammen, glaub mir.«
»Ich würde es mir wünschen.«
»So, mein lieber Ali, und jetzt lach mal wieder. Oder willst du mir keinen Gefallen mehr tun?«
»Jeden.«
»Dann such mir bitte eine Flugverbindung heraus.«
»Natürlich, Jane.«
Sie verließ das Zimmer. Auch ihr war zum Heulen zumute, sie hatte sich beherrschen müssen. Und als sie ihren Schlafraum betrat, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten.
Ein Koffer lag bereit. Viele Dinge brauchte sie nicht einzupacken. Wenn sie daran dachte, wieviel Kleidung sie früher gehabt hatte, war dies lächerlich wenig.
Vom Fenster aus blickte sie über die Gärten bis hin zu den Bergen, deren schneebedeckte Kuppen ihr zum Abschied zuwinkten. Ihr tat es leid, daß sie Abschied nahm, aber sie sah keine andere Möglichkeit.
Als es klopfte, wußte sie sofort, wer es war. »Ja, komm herein, Yakup.«
Der blonde Türke trat ein. Er trug einen eng anliegenden Jogging-Anzug, unter dessen Stoff sich die geschmeidigen Muskeln deutlich abzeichneten.
Fragend sah er die Frau an. »Du willst gehen, hat mir Ali gesagt. Ich wollte mich davon überzeugen, ob es den Tatsachen entspricht.«
»Ja, es stimmt.«
Yakup atmete tief ein und nickte. »Wir haben ja schon öfter darüber gesprochen, trotzdem kommt es für mich ein wenig überraschend. So plötzlich habe ich damit nicht gerechnet.«
»Es ist dieser Artikel gewesen.«
»Ich kenne ihn.«
»Weißt du, Yakup, ich brauchte einen Aufhänger. Ich konnte dir nicht auf blauen Dunst hin good bye sagen, das brachte ich nicht fertig. Du hast so viel für mich getan. Vor einigen Wochen erst hast du mir das Leben gerettet, als man mich verurteilte. So etwas werde ich nie vergessen. Vielleicht kann ich mich eines Tages dafür revanchieren.«
»Rede nicht
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