0427 - Die Knochen-Küste
Eisenpfosten, die durch Ketten miteinander verbunden waren.
Man hatte sie extra dort aufgebaut, damit niemand seinen Wagen in der Straße abstellte.
Die Hand des Jungen schleifte über die Ketten, die er in schaukelnde Bewegungen setzte. Manchmal kratzte er auch mit dem Stein darüber. Es war ihm kaum bewußt, daß er ihn noch festhielt.
Er sah niemanden. Die Erwachsenen wunderten sich, daß der Junge so ruhig war. Sie hoben nur die Schultern und ließen ihn gehen. Eine Radfahrerin mußte ihm trotz Klingelns ausweichen. Matthias ging schnurstracks weiter.
Am Ende des Weges führte ein kleiner Stichpfad nach links. Es war ein Privatweg, Matthias Vater hatte ihn anlegen lassen. Er endete am Deich, wo sich auch das Haus der Brookfields befand.
Es war ein weißgestrichener Bungalow aus wetterfestem Holz. Auf einem Betonsockel stand er, ansonsten wollten die Brookfields nur Holz haben, auch wenn man es sehr pflegen mußte. Der Zaun war ebenfalls aus Holz und grün gestrichen. Das Rennrad des Jungen lehnte dicht neben dem Eingangstor.
Matthias stieß es auf.
Der Eingang befand sich an der linken Seite des Hauses. Rechts lag die große Terrasse mit dem hölzernen Überbau. Ein Infrarotwärmer sorgte dafür, daß man auch bei kühlerem Wetter dort sitzen konnte.
Die Haustür war verschlossen. Es machte nichts, denn Matthias besaß einen eigenen Schlüssel. Als er ins Haus trat, hörte er die Stimme seiner Mutter. Sie stand im schmalen Teil des Flurs und telefonierte.
Der Vater hockte, wie jeden Morgen, im Keller und beschäftigte sich mit seinen Forschungen. Er war Wissenschaftler und untersuchte die Fauna in der unmittelbaren Küstenregion Südenglands.
Nebenbei hatte er auch Geologie studiert und wollte auch anhand von Gesteinsproben irgendwann mehr über die Entstehung der Erde herausfinden.
Ursula Brookfield hatte ihren Sohn entdeckt, der dicht hinter der Tür stehengeblieben war. Sie sagte noch schnell einige Abschiedsworte und legte auf.
Matthias liebte dieses Haus am Strand. Viel mehr als die Wohnung in der Stadt, in der er oft mit seiner Mutter allein lebte, weil der Vater am Strand arbeiten mußte. Doch jetzt hatte er das Gefühl, in einer fremden Wohnung zu stehen.
Zwar war noch die vertraute Umgebung vorhanden, aber er nahm sie gar nicht auf. Matthias stand in der Diele wie ein Fremder. Erst als seine Mutter ihre Hände auf seine Schultern legte, zuckte er zusammen, hob den Blick und schaute in das frisch wirkende Gesicht mit den roten Wangen der 36jährigen Frau.
»Was ist denn los mit dir, Matthias? Du bist so anders. Hat dir jemand etwas getan?«
»Mum, ich… ich… weiß nicht.«
»Es ist was passiert?«
Matthias preßte die Lippen zusammen. Er senkte den Blick, während er nickte. Plötzlich schämte er sich.
»Sag es schon. Du weißt, daß du mit Daddy und mir über alles reden kannst.«
»Ja, das weiß ich.«
»Und?«
»Ich war am Strand, Mum, wollte einfach nur laufen, so wie immer. Da habe ich dann einen Knochen gefunden.«
»Was sagst du?«
»Ja, einen Knochen. So bleich. Ich weiß auch nicht, aber der muß angeschwemmt worden sein.«
»War das alles?«
»Nein, Mum…«
Ursula Brookfield nickte. »Erzähl weiter, bitte.«
»Ich hob den Knochen auf, nahm ihn mit und ging weiter. Dann sah ich noch die Frau.«
»Welche Frau?«
»Ich kannte sie nicht. Sie muß wohl hier Ferien machen. Ich zeigte ihr den Knochen, und sie ging mit mir dorthin, wo ich ihn gefunden hatte. Das war zwischen den Dünen. Als wir ankamen, spürte ich plötzlich so ein komisches Gefühl. Ich… ich hob einen Stein auf…« Jetzt begann Matthias zu weinen, so dauerte es einige Zeit, bis er weitersprechen konnte und sich auch die Nase geputzt hatte.
»Das… das Gefühl blieb. Es wurde sogar zu einer Stimme. Ich mußte einen Stein aufheben und… und…«
»Was hast du getan?«
Die nächsten Worte sprach der Junge flüsternd aus. »Ich habe ihn gegen den Kopf der Frau geschlagen.« Er streckte die Hand aus und öffnete die Faust. »Da, du kannst ihn sehen…«
Totenbleich im Gesicht und aus weit geöffneten Augen starrte Ursula Brookfield auf den blutverkrusteten Stein in der Hand ihres Sohnes…
***
Ich hätte es vielleicht nicht tun sollen, aber in den nächsten Minuten vergaß ich Jane Collins einfach. Ich mußte die Herkunft des makaberen Strandgutes aufklären.
Die auslaufenden Wellen gurgelten und schäumten zwischen den Felsen. Die Knochen gerieten in einen Wasserkreisel und wurden auf den
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