0445 - Die Macht des Träumers
Und dann waren sie bereits an der großen, uneinnehmbar wirkenden Festung mit ihren mächtigen Vorwerken, verwinkelten Mauern und Schutzgräben. Eine Ritterarmee des Mittelsalters wäre hier verzweifelt. Selbst moderne Bodentruppen würden es nach Cascals Schützung schwer haben. Die Mauern waren massiv genug, um auch Granatenbeschuß standzuhalten.
Aber nach dem, was Cascal in der Schänke gesehen hatte, gab es hier nicht einmal Feuerwaffen primitivster Art. Dafür aber Rohre, die Dolche verschossen und angeblich nicht nachgeladen zu werden brauchten…
Zauberei…?
Cascal wußte es nicht; er wollte es auch nicht ergründen. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, brachte nichts. Er war Realist; er mußte sich damit abfinden, in das Baton Rouge, das er kannte. Überhaupt mußte auch eine Verschiebung der Zeit stattgefunden haben, nicht nur des Ortes, denn in Baton Rouge war es später Abend gewesen, und hier stand die Sonne immer noch am Himmel, auch wenn in der Schänke bereits Hochbetrieb gewesen war. Aber vielleicht waren die Sitten hier entsprechend anders, oder die Sonne ging überhaupt nicht unter…?
Rechnen mußte er schließlieh mit allem. Immerhin war der Himmel nicht blau, sondern gelblich, und die Sonne nicht gelb oder rot, sondern weiß - und man konnte hinein schauen, ohne geblendet zu werden.
Von Astronomie verstand er nicht viel; seine Interessen lagen auf anderen Gebieten. Aber das wenige, was er wußte, sagte ihm, daß ein solcher Himmel nicht normal war. Er gehörte mit zu den kuriosen Eigenheiten einer Welt, die nicht mit irgendeinem Ort der Erde identisch sein konnte.
Als sie die ersten Tore durchschritten, gab er seinen ohnehin sinnlosen Befreiungsversuch auf. Weitere Männer in der schwarzen Kleidung, die Gesichter von Masken mit Augenschlitzen verhüllt, tauchten auf. Auch sie waren bewaffnet. Sie wickelten ihre beiden Gefangenen aus dem Netz, das seltsamerweise in diesem Moment seine Klebekraft völlig verlor. Niemand dachte daran, Cascal zu durchsuchen und ihm das kleine Messer oder gar das Amulett zu entwenden. Aber mehrere der Dolchwerfer waren auf ihn und Shirona gerichtet, bei der eine Untersuchung auch überflüssig gewesen wäre - das wenige, das sie an hautenger Kleidung trug, ließ nicht zu, eine Waffe darunter zu verbergen. Nicht einmal in den schmalen Stiefelschäften…
Er sah sich sehr aufmerksam um und prägte sich den Weg ein, den sie genommen hatten. Zumindest versuchte er es, aber so wie die Anreise zur Burg in erstaunlich kurzer Zeit vonstatten gegangen war, stimmte auch mit dem Weg durch die Festung etwas nicht. Cascal hatte den Eindruck, als würden diverse Bereiche der Sicherheitsanlagen einfach »übersprungen«, fortgelassen. So wie in einem Film der Held nicht während seiner gesamten Fahrt gezeigt wird, sondern nur bei Abfahrt, vielleicht einer Zwischenstation und schließlich bei der Ankunft am Ziel. Die »Schnitte« waren perfekt; so aufmerksam Cascal auch war und sich zu erinnern versuchte, konnte er nicht effektiv feststellen, wo die »Sprünge« stattfanden. Unter diesen Umständen konnte natürlich eine Flucht auf demselben Weg, den er hergebracht worden war, fraglich sein.
Es war wichtig, das zu wissen. Über das »Warum« konnte er sich Gedanken machen, wenn er wieder daheim und in Sicherheit war.
Überhaupt, Sicherheit… was war mit seinen Geschwistern? Betraf dieser geheimnisvolle Wechsel von einer Welt in die andere nur ihn, den Schatten, oder waren auch Angelique und Maurice betroffen? Vielleicht war dies eine größere Aktion, um ihn verschwinden zu lassen? Was steckte dahinter? Er hatte die Jagd nicht vergessen, die der Teuflische seinerzeit auf ihn veranstaltet hatte, als er ihn für die Bombenexplosion verantwortlich machte.
Er sah Shirona an. Sie machte einen recht gleichmütigen Eindruck. Sie zeigte weder Furcht noch Unsicherheit, schien es auch immer noch nicht darauf angelegt zu haben, einen Fluchtversuch zu starten oder wenigstens zwecks Flucht mit Ombre zusammenzuarbeiten. Ihrer Umgebung schenkte sie kaum Aufmerksamkeit. Das verstärkte Cascals Verdacht, es in ihr mit einer Agentin des Fürsten zu tun zu haben. Dazu paßte aber nicht, daß sie ihn zunächst durch den dunklen Geheimgang vor dessen Schergen gerettet hatte.
»Shirona…«
Er sprach die Blonde an. Sie wandte den Kopf, sah ihn an, und ihre Augen schimmerten sekundenlang wie pures Silber.
***
Nicole hob die Brauen. »Und wie willst du das anstellen?« Sie drehte den
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