045 - Das verschwundene Volk
nicht?«
»Es gibt keinen Grund, dorthin zu gehen. Wir haben alles, was wir brauchen.« Er setzte sich auf den Boden und kreuzte die Beine vor seinem Körper. Mit einer Handbewegung bat er Aruula, sich ebenfalls zu setzen. Sie zögerte einen Moment, dann kam sie der Aufforderung nach, den Blick immer noch auf die entfernte Kuppel gerichtet.
»Ich möchte dir etwas erzählen«, sagte Makeje, »damit du mein Volk besser verstehst. Vor langer Zeit lebten meine Vorfahren in der vierten Welt, aus der auch du stammst. Davor gab es bereits drei Welten, die nacheinander durch Fluten und Kriege vernichtet wurden, aber jedes Mal führte uns der Schwarze Gott rechtzeitig in die nächste. In der vierten Welt erhielt mein Volk die Prophezeiung der Yiet'zu, der weißen Ungeheuer, die eines Tages über uns herfallen würden.«
Unwillkürlich musste Aruula an die Worte denken, die Maddrax zu ihr gesagt hatte: Meine Vorfahren kamen über dieses Land wie Kristofluu über die Erde. Sie hinterließen Tod und Zerstörung.
»Wir beteten zu den Göttern«, fuhr Makeje fort, »den Katchinas - den Geistern guter Menschen - und zu den Ahnen, um in die nächste Welt zu gelangen. Viele Sommer lang geschah nichts, doch dann, an einem Morgen, als die Adler tot vom Himmel fielen, hatte der Schamane eine Vision. Er sah die fünfte Welt vor sich und befahl dem Volk zu tanzen. Es heißt, sie hätten getanzt, bis der volle Mond nur noch halb am Himmel stand. Viele starben, doch schließlich hatten die Götter Mitleid und wir gelangten in die fünfte Welt, an diesen Ort. Später kamen die Yiet'zu, aber sie konnten uns nichts mehr anhaben.«
Aruula runzelte die Stirn. »Wenn dies eine andere Welt ist, wieso kann ich Maddrax und die Schlucht dann noch sehen?«
Makeje lächelte. »Du stellst kluge Fragen. Die vierte Welt ist trotz der Yiet'zu nicht vergangen, weil sie das Sipapu, den heiligen Ort des Ursprungs nie erobern konnten. Das Dorf, das dein Begleiter ein Pueblo nennt, ist in Wahrheit das Sipapu, über das wir in diese Welt gelangten. Es ist unser Ursprung und die Verbindung zur alten Welt - und ich bin der Si- papu-Tleku, der Wächter des Ursprungs. Durch mich fließt die geistige Kraft des ganzen Volkes. Ich bündele sie, damit das Sipapu auf ewig erhalten und unbesiegt bleibt.«
Er schwieg, als sei damit alles Notwendige gesagt, aber Aruula war sich nicht sicher, ob sie seine Worte verstanden hatte. Es schien, als existierten beide Welten nebeneinander und waren nur durch das Dorf in der Felswand miteinander verbunden. Makejes Volk musste über eine große Magie verfügen, wenn es den Verfall des Sipapu rein durch die Kraft des Geistes aufhalten konnte.
»Was ist mit Maddrax?«, stellte sie endlich die Frage, die ihr am meisten auf den Lippen brannte. »Er ist nicht euer Feind. Wir wollten das Sipapu nicht erobern, wir haben nur nach einem Weg auf die andere Seite gesucht.«
Makeje antwortete nicht sofort, sondern legte den Kopf in den Nacken.
»Sieh nach oben«, sagte er dann.
Aruula folgte seinem Blick und zuckte überrascht zusammen, als sie zwei weiße Streifen entdeckte, die wie aus dem Nichts am Himmel entstanden und stetig länger wurden. Sie hatte so etwas noch nie gesehen.
»Schon meine Ahnen haben versucht, diese Streifen zu deuten. Sie haben sie in den Fels gekratzt, ihren Körper damit bemalt, darüber meditiert, aber bis heute wissen wir nicht, was die Götter damit bezwecken.« Er sah zurück zum Boden. »Es gibt einen Grund für diese Streifen, ebenso wie es einen Grund für eure Reise zum Sipapu gibt. Vielleicht bist du hier, um deine wahre Bestimmung zu erkennen.«
Aruula vermied einen Blickkontakt mit Makeje. »Und Maddrax? Liegt seine Bestimmung auch hier?«
»Nein, nicht in der fünften Welt. Als Sipapu-Tleku muss ich seinen Geist umnebeln, bis er den Tod findet oder die Geister Mitleid mit ihm haben.« Er stand auf. Aruula hatte den Eindruck, dass ihre Frage ihn verärgert hatte.
»Bitte mich nicht, ihm zu helfen. Er ist ein Yiet'zu. Nur die Götter können über sein Schicksal bestimmen.«
Aruula öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen und ihm zu sagen, dass er Maddrax in diese Welt bringen oder zumindest seinen Geist befreien müsse. Aber sie beherrschte sich und blieb still. Ihr Leben hing vom Wohlwollen eines Mannes ab, der sich in sie verliebt hatte. Je mehr sie ihn daran erinnerte, dass sie einen anderen liebte, desto bedrohlicher wurde die Situation für sie und Maddrax.
Ich muss einen anderen Weg
Weitere Kostenlose Bücher