045 - Mörder der Lüfte
verdenken! Der weiße Adler hat erst …«
»Blödsinn. Der weiße Adler hat noch nie jemanden in der Nacht geholt. Du wärst ihm außerdem zu fett.«
»Aber …«
»Gehst du jetzt endlich! Oder soll ich dich zu den Agaven prügeln!«
Irasema ging. Sie dachte zwar nicht daran, eine Stunde beschwerlichen Marsches auf sich zunehmen, nur weil sich Rodrigo einbildete, Agavensaft trinken zu müssen. Sie würde bei ihrer Freundin übernachten und zu Rodrigo zurückkehren, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hatte.
Sie zog ihren Rebozo fester um die Schultern und eilte über die Straße zum Haus ihrer Freundin, die drei Straßen weiter wohnte.
Der Mond schien hell. Die Siedlung lag still und friedlich da. Irasema schalt sich eine Närrin, dass sie so ängstlich war. Tatsächlich hatte der weiße Adler seine Opfer noch nie des Nachts geholt.
Sie blickte hoch, als sie über sich ein Geräusch hörte.
Da schob sich ein mächtiger Schatten mit ausgebreiteten Schwingen vor den Mond. Der weiße Adler. Er zog die Flügel an den Körper und stürzte sich in die Tiefe.
Irasema schrie.
Rodrigo bereute es fast, dass er Irasema fortgeschickt hatte. Aber so stark waren seine Gewissensbisse nicht, dass sie ihm die Nachtruhe rauben würden. Er wollte sich gerade auf dem Lager ausstrecken, als er den Schrei hörte.
Es war der Schrei eines Menschen in höchster Not. Der Schrei einer Frau. Irasema.
Er war sofort nüchtern, sprang aus dem Bett und griff im Laufen nach einem schweren Prügel, der immer neben dem Bett stand, falls es galt, einen Skorpion oder eine Schlange zu erschlagen.
Rodrigo sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, als er ins Freie kam. Irasema rang mit dem weißen Adler. Ihre im Mondlicht blass wirkende Haut wies überall dunkle Flecken auf. Der Rebozo hing ihr in Fetzen vom Körper.
Rodrigo schrie auf und stürzte sich auf den Adler. Er traf ihn einmal, und es bereitete ihm tiefe Befriedigung, diesem mörderischen Raubvogel etwas von dem Schmerz heimzuzahlen, den er seiner Irasema bereitet hatte.
Er holte zu einem zweiten Schlag aus, aber da trafen ihn die messerscharfen Krallen an der Kehle. Ihm wurde warm. Und dann plötzlich fröstelte ihn so sehr, dass sein Körper unaufhörlich zuckte. Er spürte, wie die Wärme aus seinem Körper wich …
Dorian wachte zweimal in der Nacht auf. Einmal, als Cortez mit dem Besenstiel eine Tarantel erschlug. Das zweite Mal, als sich der weiße Adler zwei neue Opfer holte.
Dorian lag noch eine Weile wach. Eigentlich waren die Bewohner dieser Grubenstadt nicht solche Galgenvögel, wie er zuerst hatte annehmen müssen. Sie waren zwar Gesetzlose, aber hier in der Wildnis waren sie irgendwie in ein normales Leben integriert worden.
Dorian war sich natürlich klar, dass es ihm nur deshalb einige Sympathien eingebracht hatte, weil er die Schnapsflaschen kreisen ließ und auch mit Tabak und Konservendosen nicht geizte.
Aber die Gunst des ›Alcalde‹ – ja, auch so etwas wie einen Bürgermeister gab es in Contrabandista – hatte er sich nicht auf diese Weise zu erkaufen brauchen. Emiliano Lopez, das war jener Revolutionsveteran, der sie nach der Landung auf dem Hochplateau empfangen hatte, wies ihnen sogar im Cabildo, dem Gemeindehaus, ein Zimmer für die Nacht zu. Und er sagte, dass er es tat, weil Jimenez Ortuga ihn darum gebeten hatte.
Schon wieder dieser Jimenez! Aber diesmal verstand Dorian seine Handlungsweise sofort, durchschaute seine Absicht. Wenn Dorian im Hause des Alcalde schlief, stand er unter Beobachtung und konnte nichts auf eigene Faust unternehmen.
Am nächsten Morgen versuchte Dorian von Emiliano Lopez zu erfahren, wo Jimenez' Versteck lag. Doch der Alcalde behauptete, es nicht zu wissen. Er gab aber Dorian den Rat, so schnell wie möglich aus Contrabandista zu verschwinden, weil er sonst für nichts garantieren könne.
Dorian legte sich nicht fest. Als er mit Cortez das Cabildo verließ, spürte er sofort die Feindseligkeit der Bewohner. Einige jüngere Männer hatten sich auf dem Platz zusammengerottet, hielten Steine in den Händen und beschimpften sie. Sie machten sie dafür verantwortlich, dass der weiße Adler sie mit neu entfachter Wut terrorisierte.
Die aufgebrachte Meute zerstreute sich erst, nachdem Lopez ihnen die Todesstrafe angedroht hatte, falls Dorian oder Cortez etwas zustieß.
Danach wurden sie nicht weiter belästigt. Dorian schickte Cortez zum Flugzeug, damit er den Schaden am Propeller behob. Er selbst schlenderte
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