0456 - Der Geisterseher
stolzen Spanier einfach nur provozieren.
Blieb die Frage, wie lange er das verkraftete.
***
Stygia war alles andere als begeistert von dem Auftrag, den der Fürst der Finsternis ihr erteilt hatte, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Sie konnte sich der Macht seines Befehls nicht entziehen. Sie schaffte es einfach nicht, sich seiner Autorität zu widersetzen.
So versetzte sie sich in die Welt der Menschen. Ihre Hörner zogen sich in die Stirn zurück, ihre fledermausartigen Schwingen schrumpften und verschwanden unter der Haut ihres Rückens, und um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, ließ sie Kleidung um ihren Körper entstehen. Sie war in Baton Rouge erschienen, im Hafenviertel. Der vage Eindruck einer Ortsbeschreibung, den Julian ihr aufgeprägt hatte, reichte aus, sich zu orientieren.
Ihr schien, daß der Fürst der Finsternis sich selbst auch schon hier aufgehalten hatte, so exakt war das Bild. Stygia fand auf Anhieb die richtige Straße, sah das Haus, in welchem dieser Mann namens Ombre lebte.
Und sie fühlte sein Amulett.
Zum Erzengel damit! Ombre besaß die magische Waffe ja immer noch! Damals, als Julian ihn in die Schwefelklüfte geholt hatte, um ihn zu einer Zusammenarbeit zu überreden, hatte es Astaroth zwar geschafft, ihm das Amulett abzunehmen, aber Julian hatte es zurückgefordert und Ombre wieder ausgehändigt. Hatte Julian das nicht bedacht, als er Stygia hierher schickte? Oder war es Absicht gewesen?
Stygia würde Schwierigkeiten bekommen, sich Ombre zu nähern. Dieses Amulett war annähernd so gefährlich wie das von Professor Zamorra. Stygia hatte aber nicht die geringste Absicht, sich zu opfern. Dennoch brannte Julians Befehl in ihr.
Wenn sie sich nicht selbst in Gefahr bringen wollte, konnte sie nur versuchen, Ombres Gedanken zu erforschen. Sie begann mit einer Beschwörung, die ihr Ombres Bewußtseinsinhalt näher bringen sollte. Ein paar Frühaufsteher oder Spätheimkehrer, die die Straße entlang schlenderten, sahen die dunkelhaarige Frau erstaunt an, die unsichtbare Linien in die Luft malte und unverständliche Worte vor sich hin murmelte. Möglicherweise hielten sie sie für betrunken.
Stygia kümmerte sich nicht darum, was die Sterblichen über sie dachten. Die Magie begann zu wirken. Aber da fühlte sie die Präsenz eines anderen Dämonen. Sie war nicht allein in dieser Stadt.
Das war normal. Überall, wo Menschen sich ansiedelten, gab es auch Dämonen. Viele bewegten sich unerkannt zwischen ihnen, wurden für Menschen gehalten - so wie die wenigen Passanten Stygia jetzt auch für eine Menschenfrau hielten. Von dem früheren Fürsten der Finsternis Asmodis war bekannt, daß er rund um die Erde Dutzende von Tarnexistenzen besaß, in die er schlüpfte, wenn er sich unerkannt bewegen wollte. So war es nicht verwunderlich, daß es auch in Baton Rouge einen Dämon gab - es hätte Stygia gewundert, wenn hier nur dieser einzige sein Unwesen trieb.
Aber sie kannte seine Aura.
Es war jener Schwarze, der vor Stunden erst beim Fürsten vorgesprochen hatte. Stygia sah sein Sigill vor sich aufleuchten und verstand die unausgesprochene Forderung. Doch sie konnte sich andererseits dem Befehl des Fürsten nicht entziehen. Ihm zu gehorchen war wichtiger, als dem Schwarzen einen Besuch abzustatten.
Doch der Schwarze schien das anders zu sehen. Das Sigill flammte immer noch, wurde jetzt auch für Sterbliche sichtbar. Ein in der Luft hängendes Feuerzeichen! Stygia preßte wütend die Lippen zusammen. Der Schwarze verschaffte ihr nun genau die Aufmerksamkeit, die sie doch hatte vermeiden wollen!
Laß mich in Ruhe! übermittelte sie dem Schwarzen schroff.
Dies ist meine Stadt! las sie die Botschaft aus dem Sigill. Du wirst mir gehorchen oder verschwinden! Komm und nenne mir den Grund deiner Anwesenheit!
Stygia zog sich in einen dunklen Hinterhof zurück. Das leuchtende Sigill schwebte vor ihr her. Ließ nicht locker. Ein krähenartiger Vogel flatterte durch die Luft. »Der Hohe Schwarze spricht durch mich! Erkläre den Grund für deine Beschwörung! Du störst die Kreise des Hohen Schwarzen!«
Sie starrte den Vogel durchdringend an. »Ich bin im Auftrag des Fürsten hier und dir keine Rechenschaft schuldig, Schwarzer!«
»Du störst«, krächzte der Vogel. »Laß ab von deiner Beschwörung und verschwinde. Oder stimme dein Vorgehen auf die Magie des Hohen Schwarzen ab. Eine Zeremonie steht bevor. Deine Schwingungen bringen ihren Erfolg in Gefahr.«
»Der Auftrag
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